Renitentes Erinnern

Vordringen in Areale des Unverstandenen: In Angelika Overaths Roman „Nahe Tage“, den sie jetzt im Literaturzentrum präsentiert, entdeckt eine Tochter nach dem Tod der Mutter ihre Familiengeschichte neu

Die Intimität der Situation kollidiert mit den vielen Bildern vom angemessenen Abschied von den Toten: „Ich müsste jetzt beten, dachte sie, betete aber nicht. Ich sollte sie zum Abschied küssen, dachte sie. Und sie küsste sie nicht.“

Johanna steht am Krankenbett ihrer Mutter, die Maschinen sind abgeschaltet, am Vormittag ist sie gestorben. Zuletzt ist die Tochter täglich gekommen. Jetzt ist eingetreten, was zu erwarten war und doch ganz unglaublich scheint; die Realität des Todes ruft ein fast kindliches Staunen hervor: „Das ist also möglich, dachte sie. Natürlich hatte sie gewusst, dass es einmal so kommen konnte, dass die Mutter stirbt und die Tochter lebt, aber wirklich geglaubt hatte sie es nicht.“ Und so meint sie, noch den Atem der Mutter zu hören, ganz deutlich.

Von diesem Punkt aus entwickelt Angelika Overath, bislang durch ihre literarischen Reportagen bekannt, in ihrem ersten und preisgekrönten Roman Nahe Tage, den sie jetzt im Literaturzentrum vorstellt, das dichte Bild einer schrecklich nahen Mutter-Tochter-Beziehung. Johanna, Ende dreißig, findet sich in der Wohnung der Mutter wieder: „Höllen müssen vertraute Orte sein. Jede Fremde wäre jetzt harmlos.“ Und doch kann sie die zu bekannten Räume am Abend nicht verlassen – ein Strom von Erinnerungen wird sie die ganze Nacht dort festhalten.

Johanna dringt vor in das Unverstandene ihrer Kindheit, die beherrscht war von der mütterlichen „Liebesgewalt“. Das Unmögliche ihrer „Aufgabe“, die Verluste und die Leere der Mutter aufzufüllen, wird erst der erwachsenen Tochter klar. Dem Kind sind die Eltern die Welt, und die ist fraglos gültig. Die Übergriffe, die maßlose Vereinnahmung einer würgenden Liebe können nicht als solche erkannt werden.

Die Erfahrungen des Krieges, die Geschichten aus dem zurückgelassenen „Zuhause“, dem Sudetenland – verschwiegen lasteten sie umso schwerer auf der kleinen Familie, „ein labiles Gleichgewicht, eine Kette abhängiger Glieder“. Deren Auseinanderbrechen zu verhindern war oft die unausgesprochene Forderung an das Kind.

Sehr feinfühlig sind die Sätze, die Overath für das schwierige Erinnern der Tochter findet. Den Suizidversuchen des Vaters, das schwächste Glied, folgten häufig Umzüge. Jedes Mal brach die Geschichte des Mädchens ab, das über das Vorgefallene und die folgenden Besuche in der „Irrenanstalt“ zu schweigen hatte.

Nun doch eine eigene Geschichte zu erinnern, erscheint fast wie Verrat den Eltern gegenüber und ist tatsächlich ein widerständiger Akt. Im Laufe der Nacht werden die Erinnerungen zu unerlösten, doch „sichere(n) Nomaden der Seele“. Und so ist Nahe Tage nicht zuletzt ein so genauer wie poetischer Roman über das befreiende Potenzial des Sich-Erinnerns. Carola Ebeling

Angelika Overath: Nahe Tage. Göttingen 2005, 151 S., 16 Euro. Lesung: Mi, 25. 1., 20 Uhr, Literaturzentrum, Schwanenwik 38