: Unter 68ern
FREIHEIT Raus aus Westdeutschland, rein in die Mauerstadt. Unsere Mütter hießen jetzt nicht mehr Mama, sondern Claudi oder Kathi, ihre neuen Männer trafen wir in T-Shirt und ohne Unterhose in der Küche. Erfahrungen einer entgrenzten Erziehung
VON HENRIETTE HEITMANN*
Unsere Mütter verließen unsere Väter. Sie wollten fern von Konventionen ein selbstbestimmtes Leben führen, raus aus Westdeutschland, rein in die Mauerstadt Berlin, die inmitten aller Umzäunungen ein Synonym für Freiheit war.
Ich war sechs Jahre alt, als meine Mutter uns nach Berlin holte. Es war das Jahr 1970. Sie hatte ihren Lodenmantel gegen Batikshirts eingetauscht und fuhr mit einem alten VW-Käfer in München vor, um meinen Bruder und mich einzusammeln. Zwei Jahre zuvor war sie mit einem Berliner Maler durchgebrannt. Ich hatte sie seitdem nicht wiedergesehen.
Der neue Mann an ihrer Seite hieß Klaus. Er stieg nackt aus dem Berliner Schlachtensee und streifte sich ein Kondom vom Finger, das er schützend über eine Schnittwunde gezogen hatte. Er ließ es vor meinen Augen hin und her baumeln und erklärte mir seinen eigentlichen Verwendungszweck. Ich glaube, das war meine erste Aufklärungsstunde.
Ende der Kindheit
Wir zogen in ein Haus in einem Charlottenburger Alleenviertel. Noch nie hatte ich so viele alte Menschen gesehen. Berlin war eine Rentnerstadt, mit ein paar Arbeitern, Taxifahrern, Wehrdienstverweigerern. Und jeder Menge narzisstischer und neurotischer Literaten und Künstler, die im Schutz der Mauer nach Selbstverwirklichung suchten. Sie trafen sich in der „Autorenbuchhandlung“ oder im „Buchhändlerkeller“, saßen nachts in Kneipen, die „Zwiebelfisch“ oder „Die dicke Wirtin“ hießen, tranken, rauchten und diskutierten über Ethnologie, Konzeptkunst oder Wilhelm Reich. Mein bürgerlicher Vater aus Westdeutschland bezahlte dieses Leben. Das Haus, die Selbstverwirklichung, die Freiheit.
Für meinen Bruder und mich bedeutete diese Freiheit das Ende unserer Kindheit. Unsere Mütter hießen jetzt nicht mehr Mama oder Mami, sondern Claudi oder Kathi. Wir hatten einen Schlüssel um den Hals, und wenn wir aus der Schule kamen, entnahmen wir den kleinen Botschaften am Kühlschrank, ob wir Keramikkurs, Zahnarzt oder Nachhilfe hatten. Wir schmierten uns morgens die Schulbrote, kochten uns mittags die Reste vom Vortag, verbrachten die Nachmittage in den Familien unserer Freunde und gingen meist ohne Gutenachtkuss schlafen, weil unsere Mutter noch im Atelier oder unterwegs war. Unsere Haare wurden länger, wir trugen jetzt auch Batikshirts und auf unseren Nachttischen lagen Bücher von Judith Kerr oder Janusz Korczak.
Es war eine Zeit mit autofreien Sonntagen, Trödelmärkten und Sperrmülltagen, an denen wir alte Thonet-Stühle und Puppenstuben von der Straße auflasen, mit den Söhnen des Berliner Bürgermeisters Federball spielten, bei den Nachbarskindern heimlich „Pan Tau“ oder „Lolek und Bolek“ sahen – umgeben von Künstlereltern, die sich darin versuchten, Kinder mit Luft, Liebe, größtmöglicher Freiheit und linken Wertvorstellungen großzuziehen.
Statt ins Ballett oder zum Reiten zu gehen, lernten wir im GRIPS Theater alles über unsere neuen türkischen Mitbürger oder die Auswirkungen des Fernsehkonsums, oder wir saßen im Theater Rote Grütze, das unseren Müttern ersparte, uns das mit dem Sex selbst erklären zu müssen. Wir schliefen am Wochenende nach den Vernissagen auf den Fußböden der Ateliers und Galerien, wurden in die Schaubühne oder zum Theatertreffen mitgeschleppt, spazierten im Sommer mit einer Schar befreundeter Familien um den Grunewaldsee oder saßen in Zehlendorfer Gärten bei Earl Grey, Traubensaft und Apfelkuchen. Wir waren immer stolz, zu dieser freien Gemeinschaft zu gehören. Wir wurden ernst genommen, wir waren erwachsen. Man sprach mit uns über Schreibblockaden, Zukunftsängste, Liebeskummer und Depressionen, diskutierte mit uns über die Auswirkungen des Vietnamkriegs, das Für und Wider der RAF und des bewaffneten Kampfes und erklärte uns, warum Sex heute besser sei als damals mit unseren Vätern.
Die neuen Männer, mit denen alles besser war, hießen Günther oder Peter. Sie standen in T-Shirt und ohne Unterhose in der Küche und schmierten ab jetzt unsere Schulbrote oder blätterten auf dem Klo im Stern, in der Quick oder in der Pardon, während wir unsere Zähne putzten.
Gudrun Ensslin im KaDeWe
Klos waren überhaupt interessante Orte. Wenn dort keine Männer waren, schloss ich mich mit meinen Bruder dort ein, um über geheime Dinge zu sprechen. Wir sprachen vor allem über die RAF, oder besser, wir flüsterten, weil es hieß, die RAF sei überall.
Manchmal klingelte es nachts. Dann hörten wir Stimmen, Menschen, die in unseren Keller gingen und im Morgengrauen wieder verschwanden. Es waren die einzigen Momente, in denen unsere Mutter mehrmals in der Nacht nach uns sah. Irgendwann hörten diese Besuche auf. Später erzählte uns unsere Mutter, dass sie Gudrun Ensslin in der Perückenabteilung des KaDeWe gesehen hatte, sie wollte keine Denunziantin sein und hatte sie nicht angezeigt.
Weil getrennte Mütter und Väter damals nur über Anwälte verkehrten, wurden wir zwei bis drei Mal im Jahr den netten Stewardessen von Pan Am anvertraut. Die Väter in Westdeutschland waren anders als die Männer in Berlin. Sie hatten in der Wohnung Unterhosen an, gaben anderen Menschen zur Begrüßung keine Küsse, sondern die Hand, und wenn Besuch kam, wurden wir gebeten, die Erwachsenen allein zu lassen und ins Nebenzimmer zu gehen.
Meine Mutter liebte es, wenn sich die Generationen mischten. Manchmal weckte sie meinen Bruder und mich mitten in der Nacht, weil wir an irgendeiner spannenden Diskussion mit ihren Freunden teilnehmen sollten. Das Wohnzimmer roch dann nach Rotwein und Zigaretten, es liefen französische Chansons und wir bekamen auch einen Schluck Wein, weil das in Frankreich für Kinder so üblich war.
Einmal hatte mich ein Freund meiner Mutter in mein Kinderzimmer zurückgebracht und staunte über die vielen Kuscheltiere, die sorgfältig auf meinem Bett aufgereiht waren. Er fand das für eine Zehnjährige nicht altersgemäß. Am nächsten Tag hatte er die tolle Idee, mit mir gemeinsam meine Kuscheltiere in die Mülltonne zu werfen. Immer abwechselnd, jeder eins. Ein anderer Mann, der irgendeine wichtige Rolle beim Sender Freies Berlin spielte, liebte es, mit Erdbeertörtchen aus der „Wiener Konditorei“ bei uns vorbeizuschauen. Er bestand dann darauf, zwischen Mutter und Tochter zu sitzen, und umschmeichelte uns beide mit Komplimenten.
Meine Mutter war schön und eloquent, ich wollte ihr gefallen und so sein wie sie. Sie gab mir das Gefühl, ihre beste Freundin zu sein, und ich genoss es, wenn die Männer ihr nachsagten, sie sehe aus wie meine große Schwester. Brüder waren in diesem Mutter-Tochter-Spiel nicht vorgesehen. Und sie verschwanden unmerklich aus dem Blickfeld. Sie drifteten früh ins Kiffen ab, landeten im Internat oder wurden Bodybuilder oder „Popper“. Meist waren sie der genaue Gegenentwurf zu ihren Vätern, aber auch zu den Männern, mit denen sich unsere selbstverwirklichenden Mütter umgaben.
Auf dem Gymnasium veränderte sich meine Welt. Ich errötete öfter, meine Blusen wurden enger. Ich lag mit meinen Freundinnen bei Kerzenschein in der Badewanne und hielt in der Schule unter der Bank mit ihnen Händchen, bis unser Klassenlehrer uns ermahnte, dass sich das für Mädchen nicht gehörte und wir das lieber mit den Jungen machen sollten. Einige Mitschülerinnen verschwanden auf Klassenpartys mit den Referendaren, stürzten in Bhagwan-Discos ab, glitten unter LSD in schwere Psychosen oder tauchten für immer auf dem Babystrich am Bahnhof Zoo ab.
Wir nannten sie Apo-Opas
Die Männer meiner Mutter interessierten sich plötzlich für meine Probleme, fragten mich Vokabeln ab oder fuhren mit ihren Volvos und Saabs vor meiner Schule vor, um mich auf eine Pizza oder ein Eis einzuladen. Manchmal, wenn wir uns nachts in der Wohnung über den Weg liefen, versuchten sie, mir näherzukommen. Sie überraschten mich im Bad oder in meinem Zimmer, wenn ich mich umzog. Ich verbuchte das als Zufall. Vor allem wollte ich nicht mit meiner Mutter darüber reden. Ich war froh, wenn sie einen Freund hatte und ich nicht den Partnerersatz spielen musste.
Dann begann die Zeit, in der ich die Vormittage statt in der Schule im Schwarzen Café verbrachte und den Teufelssee entdeckte. Hier saßen ältere coole Jungen, die Gitarre spielten, in Theater AGs waren und sich politisch engagierten, aber auch nackte, bärtige Mittvierziger. Sie waren Lehrer und Erzieher und hatten manchmal kleine Jungen bei sich, auf die sie ein paar Tage aufpassen sollten. Die kleinen Jungen zogen an Joints oder tranken aus Bierflaschen, die ihnen die bärtigen Männer weiterreichten. Die „Apo-Opas“, wie wir sie nannten, fragten uns viele Sachen, ob wir schon einen Freund hätten und ob wir gerne mal bei ihnen eine Party machen wollten. Einmal gingen wir mit. Es gab viel Bier und Wein und als ich im Morgengrauen aufwachte, lag einer der „Apo-Opas“ neben der kleinen Schwester einer Freundin und hatte seine Hand in ihre Hose geschoben.
Vor Kurzem habe ich die kleine Schwester wiedergesehen. Es war der 75. Geburtstag ihrer Mutter. Weggefährten von damals waren da, bei denen wir schon als Kinder auf dem Schoß gesessen hatten. Ihr Vater reichte mir ein Glas Sekt und stieß darauf an, dass aus uns allen doch noch etwas geworden sei.
* Die Autorin schreibt hier unter Pseudonym. Ihr richtiger Name ist der Redaktion bekannt.