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Archiv-Artikel

Lasst Bindungen blühen

Ohne Bildungssystem und Arbeitsmarkt geht gar nichts. Nach der Debatte um den Muslimtest:Wo liegen wirklich die Probleme bei der Integration der zweiten und dritten Migrantengeneration?

Während sich die Deutschen in die Fünfziger zurücksehnen, träumen Migranten von Herkunftsländern, die sie gar nicht mehr kennen

VON ANDREA SZUKALA

Am Ende der Diskussion um den „Muslimtest“ stellt sich die Frage: Soll das nun der Stand der Integrationsdebatte gewesen sein? Wenn das so ist, gibt es noch einen lange Strecke zurückzulegen auf dem Weg zur Lösung dieses gewaltigen Zukunftsproblems der deutschen Gesellschaft (immerhin kommt inzwischen fast ein Drittel aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland aus Migrantenfamilien).

Das ist besonders traurig angesichts des akuten Leidens vor allem der jungen Muslime, die die nachweislich zunehmende Muslimfeindlichkeit in Deutschland als krasse persönliche Zurückweisung erleben. Eine zweite Reaktion ist das Heimweh nach einem Land, das Eltern oder Großeltern mit guten Gründen verlassen haben und das nun als eine unbekannte Gegenwelt zum letzten Halt wird. Dass hier schlimmstenfalls destruktive Verhaltensmuster angeeignet werden, die im Herkunftsland vielleicht nicht mehr oder kaum noch existieren, kann man nachvollziehen, darf man aber nicht tolerieren: Sie sind Sache des deutschen Strafrechts.

Was kann man festhalten? An der Neutralitätspflicht des deutschen Staates darf nicht gerüttelt werden, seine Institutionen haben sich einer Beurteilung religiöser Überzeugungen strikt zu enthalten. Das ist – so schwierig sich das im Einzelfall darstellt – die gute Praxis der deutschen Gerichte und Verwaltungen seit Jahren. Zweitens hat sich herausgestellt, dass fast alle europäischen Staaten mit ähnlichen Defiziten der gesellschaftlichen Entwicklung im Bereich der Integration zu kämpfen haben. Ganz unterschiedliche rechtliche Voraussetzungen – beispielsweise beim Staatsbürgerschaftsrecht – produzieren ähnliche suboptimale Ergebnisse: Das französische Beispiel spricht Bände.

Vor der Überforderung durch allzu kompakte staatlich-institutionelle Lösungen muss man also warnen. Dennoch sollte immer wieder überprüft werden, an welcher Stelle die Integration durch abgestufte Angebote beispielsweise im Bereich der politischen Teilhabe effektiver gestaltet werden kann. Hier ist Kreativität gefordert, denn gerade für Deutschland gilt, dass die traditionell scharfe Trennung von Staatsbürgern und Ausländern nicht mehr haltbar ist, weil viele ausländische Bürger kontinuierliche Bindungen aufgebaut haben. Die baden-württembergische recht fantasievolle Lösung gibt ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie man nicht vorgehen sollte, wenn man diese Bindung für die deutsche Gesellschaft fruchtbar machen will.

Der Wunsch nach politischer Teilhabe, vor allem wenn er durch die Ablösung vom Herkunftsland erkauft werden muss, kommt häufig erst am Ende der Integration auf. Die geringe Einbürgerungsneigung der zweiten und dritten Migrantengeneration signalisiert die schweren Defekte des deutschen Systems, auf deren Behebung sich nun alle Anstrengungen richten müssen. Man definiert Integration als die Art und Weise, wie neue Bevölkerungsgruppen mit dem bestehenden System sozioökonomischer, rechtlicher und kultureller Beziehungen einer Gesellschaft verknüpft werden. Tatsächlich geht es dabei zunächst um den Erwerb des Mitgliedsstatus in den Kerninstitutionen der Aufnahmegesellschaft in den Bereichen Wirtschaft und Arbeitsmarkt sowie Bildungssysteme.

Während die Bildungssysteme seit Pisa im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen und eine langsame Besserung sichtbar wird, verschlechtert sich die Integration in den Arbeitsmarkt rasant. Die Beschäftigungsquote der in Deutschland lebenden Ausländer nimmt ab, die Schere zu den deutschen Beschäftigten weitet sich. Dies gilt vor allem für die Ausbildungsbeteiligung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund: Sie geht seit den Neunzigerjahren zurück. Anders als bei deutschen Bewerbern erhöht sich dabei mit steigender schulischer Vorbildung die Aussicht auf einen Ausbildungsplatz bei ausländischen Jugendlichen nicht: Die Chance eines ausländischen Realschulabsolventen, einen Ausbildungsplatz zu erhalten, ist nicht höher als die eines ausländischen Hauptschulabsolventen – die Differenz beträgt ein Prozent. Bei deutschen Jugendlichen liegt dieser Unterschied bei 18 Prozent.

In diesem Befund steckt ein deutlicher Hinweis auf Diskriminierung an dem zentralen Hebel für die Integration: Der dauerhafte Ausschluss aus dem Erwerbsleben blockiert den Zugang zu den Orten, an dem die Sozialisation in die deutsche Gesellschaft am effektivsten und nachhaltigsten gelingen kann. Das Wohlstandsversprechen, das die Eltern und Großeltern an die deutsche Gesellschaft gebunden hat, ist weggebrochen. Hier berühren sich die Probleme der Nachfahren der Einwanderer mit denen der deutschen Mehrheitsgesellschaft: Das bescheidene Identifikationsangebot der Kanzlerin, Deutschland solle seine alte Rolle als wirtschaftlicher Musterschüler wiederfinden, ist aus demselben Stoff gemacht wie die Träume der Wirtschaftswunderkinder der Fünfzigerjahre, die einst die „Gastarbeiter“ einluden, um mit ihnen an diesem Traum zu stricken.

Nun ist aber dieses dünne politische Projekt heute extrem enttäuschungsanfällig und taugt nicht wirklich zur Mobilisierung für einen Staat und seine Gesellschaft. Die Kampagne „Du bist Deutschland“ wirkt in diesem Zusammenhang geradezu entlarvend. Während sich also die Deutschen in die Fünfzigerjahre zurücksehnen, träumen die jungen Migranten von Ländern, die sie nicht kennen.

„6. Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland“ unter: www.integrationsbeauftragte.de/gra/publikationen/publikationen_1172.p hp