Der Rucksack fällt

Nicolas Kiefer zieht bei den Australian Open zum ersten Mal in seiner Karriere in das Halbfinaleeines Grand-Slam-Turniers. Nun trifft er auf Roger Federer, der derzeit mehr Fehler macht als üblich

AUS MELBOURNE DORIS HENKEL

Seine Füße brannten, die Gefühle fuhren Karussell, aber er hielt sich an einem einmalig guten Gedanken fest. „Ich bin sooo glücklich“, sagte Nicolas Kiefer nach seinem Sieg Mittwoch in Melbourne gegen den Franzosen Sébastien Grosjean (6:3, 0:6, 6:4, 6:7, 8:6). „Endlich habe ich die Hürde überwunden.“ Viermal hatte er in der frühen Phase seiner Karriere versucht, das Halbfinale eines Grand-Slam-Turniers zu erreichen. Jedes Mal war er gescheitert. Immer wieder während der Partie gegen Grosjean hatte er daran denken müssen, auch an die vier vergebenen Matchbälle im Doppel-Finale der Olympischen Spiele in Athen. Jede Niederlage ein Ziegelstein der Erinnerung, und so hatte er das Gefühl, einen schweren Rucksack einfach nicht loswerden zu können.

Wer jemals so einen Rucksack eine lange Wegstrecke geschleppt hat, der weiß, dass man sich ohne den Ballast im ersten Moment einbildet, man könne fliegen. Kiefer ist einer, der sich gern mal was einredet, aber die Gefahr, das nächste Spiel zu leicht zu nehmen, besteht garantiert nicht. Denn im Halbfinale am Freitag wird er gegen Roger Federer spielen, die Nummer eins der Welt. Doch dass der dieser Tage nicht so stabil spielt wie gewohnt, das sah man am Mittwoch zum zweiten Mal in Folge. Nach dem Sieg in fünf Sätzen gegen Tommy Haas hatte Federer auch gegen Nikolai Dawidenko alle Hände voll zu tun. Er konnte von Glück sagen, dass der Russe nach dem Gewinn des zweiten Satzes im Tiebreak des dritten sechs Satzbälle nicht nutzen konnte. Wie sehr Dawidenko den Favoriten aus dessen Komfortzone drängte, konnte man auch der ungewöhnlich großen Anzahl so genannter unforced errors entnehmen: 52. Am Ende reichte es dennoch zum Sieg (6:4, 3:6, 7:6, 7:6), was er mit Erleichterung zur Kenntnis nahm. Das sei verdammt eng gewesen, gab er zu. „Ich hätte genauso in vier oder fünf Sätzen verlieren können.“

Federer hatte sich am Nachmittag Kiefers Spiel im Fernsehen angesehen; wenn auch nicht von Anfang bis Ende, aber das wäre bei der Dauer vielleicht auch zu viel verlangt gewesen. Vier Stunden und 48 Minuten vergingen vom ersten Aufschlag Kiefers bis zu Grosjeans letzter, verzweifelter Aktion, und bis auf den guten ersten Satz erinnerte die Partie an ein Stück aus dem modernen Theater. Die Darsteller taten sich schwer mit einem sperrigen Text, das Publikum verstand den Sinn des Ganzen nicht, und das Stück schien kein Ende zu nehmen. Kiefer meinte hinterher, er habe sicher nicht sein bestes Tennis gespielt, aber er habe gekämpft wie der Teufel, habe nie aufgegeben, und darauf sei er stolz.

Weniger stolz war er auf eine Aktion, mit der er sich gegen Ende seines langen Marsches mit brennenden Füßen und Ballast auf dem Buckel die Sympathie des Publikums verscherzte. Beim Stand von 5:6 im fünften Satz erreichte er einen Stoppball von Grosjean nur mit größter Mühe, und in der Annahme, dass der Franzose den Punkt am Netz machen würde, warf er seinen Schläger auf die andere Seite. Grosjean verschlug den Ball und protestierte, der Schiedsrichter sprach Kiefer den Punkt zu, und das Publikum pfiff. Natürlich sei das nicht nett gewesen, gab Kiefer hinterher zu, er habe den Schläger „aus Jux rübereiern lassen“ und sei sehr überrascht gewesen, dass ihm der Punkt zugesprochen worden sei.

Grosjean ärgerte sich, doch der Zwischenfall hatte keine größere Bedeutung, denn er gewann dieses Aufschlagspiel, und als die Entscheidung wenig später fiel, ging alles mit rechten Dingen zu. Beim ersten Matchball scheiterte Kiefer mit einer Kombination aus Stopp und Lob, beim zweiten Mal hatte er Erfolg – und das war der Moment, in dem der Rucksack fiel.

Ob er Freitag gegen Roger Federer mit leichterem Gepäck spielen wird? Einerseits ja, denn niemand wird ihn für den Favoriten halten. Andererseits ist es so, dass er in den letzten Begegnungen mit Federer in Wimbledon und bei den US Open jeweils einen Satz gewonnen hat und Federer hinterher gesagt hat, mit Kiefers Art zu spielen habe er so seine Probleme. Aber das, meint Kiefer, genüge nicht. „Ich kann mir nichts dafür kaufen, wenn ich sage, dass ich gegen Roger einen Satz gewonnen habe. Zufriedenheit ist Stillstand. Mein Ziel muss sein, zu gewinnen.“