„So feig und so bequem“

In Michael Hanekes Film „Caché“ sieht sich ein Pariser Bürger mit einer dunklen Episode aus seiner Kindheit konfrontiert – und plötzlich ist die koloniale Vergangenheit Frankreichs präsent. Ein Gespräch mit dem österreichischen Regisseur über Schuld, schlechtes Gewissen und das Erbe des Algerienkrieges

Interview DOMINIK KAMALZADEH

taz: Herr Haneke, in „Caché“ geht es um eine Bedrohung von außen: Eine Familie wird von einem anonymen Beobachter verfolgt. Der Film beschreibt eine Dynamik der Angst, die sehr zeitgemäß ist.

Michael Haneke: Das ist im Prinzip ein klassisches Thrillerschema. Thriller arbeiten stets mit der Angst. Es gibt eine Zelle. Dann kommt ein Brief, eine Kassette oder gar eine Schachtel an, in der ein Kopf ist, und die Post geht ab. In der Folge erfährt man viel vom Innenleben dieser Zelle und ihrem sozialen Zusammenhalt. Ich habe dieses Schema genutzt, um vor allem eine Frage zu stellen: Wie gehen wir mit unserem schlechten Gewissen um? „Was tut man nicht alles, um nichts zu verlieren“, sagt die aus Algerien stammende Figur Majid an einer entscheidenden Stelle des Films zu Georges …

dem Protagonisten, einem arrivierten Pariser Intellektuellen …

… der Majid für den Bedroher hält. Wie verhält man sich, wenn man mit etwas konfrontiert ist, wofür man sich eigentlich verantwortlich zeigen müsste? Mir geht es um solche Strategien, sich von Schuld freizureden. Es ist doch so: Wir alle empfinden uns als wahnsinnig liberal. Wir sind dafür, dass die Ausländergesetze nicht verschärft werden. Aber wenn jemand zu mir kommt und mich fragt, ob ich eine fremde Familie aufnehme, sage auch ich: eigentlich nicht. Das Hemd ist einem näher als der Rock. So feig und so bequem wie ich sind die meisten Leute.

Ihre Filme haben stets Gewaltmechanismen thematisiert und dies mit Medienkritik verknüpft. „Caché“ beschreibt dagegen eher soziale Spannungen. Durch die Unruhen in den Pariser Vororten im Herbst haben sie zusätzlich Aktualität gewonnen.

Für mich ist daran nichts wirklich neu. Die gleichen Bilder und die gleiche Presseaufregung über soziale Unruhen gab es doch schon vor etlichen Jahren – und die werden wir bald wieder haben, weil es um ein komplett ungelöstes Problem geht, das vor sich hin köchelt. Die Politiker drücken sich darum herum, sie wissen auch nicht, wie sie es lösen sollen.

Ich bin immer verblüfft, wenn solche Probleme aufs Neue entdeckt werden. Ich war schon verblüfft, als alle gesagt haben, nach dem 11. September ist die Welt anders. Das müssen doch sehr naive Leute sein, die das so sehen! Für mich war die Welt davor ganz ähnlich. Bei den Unruhen ist es dasselbe: Es handelt sich um ein Urerbe des Kolonialismus, an dessen Folgen diese Nationen laborieren. Und dafür gibt es auch keine Einzellösung.

Die Befindlichkeit der Menschen und die Sicherheitsmaßnahmen der Staaten haben sich aber geändert.

Ja, und das geht natürlich genau in die falsche Richtung. Anstatt das Problem anzugehen, stellt man sich die Frage, wie man das Problem am besten abwehren soll, damit man nicht damit konfrontiert wird. Was wiederum immer mehr zum Versuch eines totalitären Staats führt.

Zurück zu „Caché“: Die Bedrohung von außen ruft die eigene Schuld wach. Georges kann damit nicht umgehen.

Ich glaube, dass man so funktioniert. Es gibt so eine Art emotionales Gedächtnis für schlechte Taten. Wenn dann durch einen Zufall eine Proust'sche Madeleine auftaucht, dann kommt das wieder hoch. Im Übrigen kann ich ja nicht so tun, als würde ich nicht aus dieser jüdisch-christlichen Tradition kommen. Das Thema Schuld liegt in diesen Breitengraden in der Luft. Deswegen komme ich ja immer auf dieses Thema zurück.

Eine der Ausgangsideen für den Film war, jemanden mit etwas zu konfrontieren, das er als Kind verursacht hat. In solchen Fällen ist es besonders bequem, sich herauszureden. In „Code Inconnu“ hilft der Schwarze einer Bettlerin, mit dem Resultat, dass er ins Gefängnis kommt und sie ausgewiesen wird. Ist er schuldig? Schwer zu sagen, denn Schuld ist eine komplizierte Angelegenheit – und wir haben diverse Verdrängungsstrategien, mit schlechtem Gewissen umzugehen. Etwa so wie Georges, der ein paar Tabletten nimmt, um besser zu schlafen. Eine ungute Situation, die mich sehr interessiert.

Über die individuelle Schuld hinaus geht es in „Caché“ auch um kollektive Schuld, um das politisch Unbewusste des Algerienkriegs.

Das erste Thema dieses Films ist zwar nicht Algerien. Aber die Frage, wo private in kollektive Schuld übergeht, fand ich spannend. Solche schwarzen Flecken gibt es in jedem Land, in Österreich und Deutschland würde man sagen, es gibt genug braune.

In Paris habe ich an einem Gespräch teilgenommen, bei dem auch ein Spezialist für Algerienfragen dabei war. Er hat gemeint, der Film schaffe einen Ausdruck dafür, dass das Leiden des algerischen Volkes nie anerkannt worden ist. Daran habe ich beim Schreiben des Films gar nicht gedacht … Auf die Geschichte von Majid bin ich über eine TV-Dokumentation gekommen. Da wurde dieses Ereignis von 1961 in Paris erwähnt, bei dem 200 algerische Demonstranten von der Polizei niedergeprügelt und die Leichen in die Seine geschmissen wurden. Niemand hat darüber geschrieben, obwohl Frankreich eine liberale Presse hat. Das ist ein Phänomen, das ich bis heute nicht verstehe.

Videoaufnahmen und Filmbilder gehen im Film oft nahtlos ineinander über. Was bezwecken Sie mit dieser Irritation?

Ich versuche in jedem Film, das Misstrauen in unsere Realitätsgläubigkeit zu schüren. Wir wissen ja nichts von der Welt – abgesehen von dem, was wir selber erlebt haben. Das können wir auch überprüfen. Alles andere erfahren wir über Medien. Das funktioniert wie stille Post, ein Informationswert wird von einem zum nächsten übermittelt. Das ist unsere Form von Wirklichkeit, die ich politisch für sehr gefährlich halte. Man braucht sich ja nur anzusehen, was Bush damit macht. Ich betrachte es als meine ästhetische Pflicht, das zu reflektieren. Es ist ja kein Zufall, dass die Nachkriegsliteratur die Handlungsliteratur aufgekündigt hat. Eine Erfahrung des Faschismus, die für das Kino genauso gilt.

Es geht mir vor allem darum, den Zuschauer darauf hinzuweisen, dass er nur mit einem Artefakt konfrontiert ist. Ich fordere ihn auf, selber nachzudenken – wie in „Funny Games“, in dem er direkt anvisiert wird. Das ist für mich eine Grundbedingung, um ernsthaft mit dem Zuschauer umzugehen. Ich möchte ihm das, was er sieht, durchschaubar machen.

Im Unterschied zu „Funny Games“ unterziehen sie ihn aber in „Caché“ keinem emotionalen Wechselbad. Georges wird zum distanzierten Studienobjekt. Man fragt sich, wie er mit der Bedrohung umgeht.

Das auch … Aber als Zuschauer wird man selbst permanent verunsichert. Das statische Anfangsbild vom Haus verblüfft ja zuerst einmal. Daraus wird ein Misstrauen, weil es eine ganze Reihe von Szenen gibt, bei denen man sich fragt, ob das jetzt wieder ein Videobild ist. Diese Form von Misstrauen, die in den Bildern entsteht, finde ich gut. Das sollte das Kino mehr pflegen.

Ist das ein Misstrauen gegenüber bestimmten Bildern: Leistet das Filmbild, indem es Einsichten liefert, nicht mehr als das protokollierende Videobild?

Nein, eher ein Misstrauen gegenüber jedem Bild, weil jedes Bild manipulativ ist. Von der Bildästhetik sind sich Video und Film ähnlich, das würde ich nicht überbewerten. Ich würde da nicht zwei Bilder gegeneinander ausspielen. Ich habe versucht, so viele Ähnlichkeiten wie möglich zu schaffen, um zu dieser Ununterscheidbarkeit zu kommen. Selbst die Szenen zwischen Majid und George, die es in zwei Varianten gibt, sind fast identisch. Eine davon ist allerdings leicht gekippt, damit sie näher an einer Überwachungskameraperspektive dran ist. Wir haben die Szene mit drei Kameras gedreht, was schwierig war, weil man zwei Kameras jeweils vor der dritten verstecken musste. Alles nur, um diese Irritation zu schüren. Ich bin jetzt auch sehr froh darüber, dass es so unterschiedliche Interpretationen gibt.

Georges wird seine Schuld nie reflektieren. Es bleibt auch offen, ob er sich irrt …

Georges müsste seine gesamte Lebensweise in Frage stellen. Aber man wehrt sich ja gegen die Erkenntnis. Nicht weil die Erkenntnis so schwierig ist, sondern weil die Folgen so schwerwiegend sind. Obwohl wir um das Elend der anderen wissen, schaffen wir es in den seltensten Fällen, daraus Konsequenzen zu ziehen. Das macht die dramatische Kunst seit ihrem Anbeginn, man denke nur an Ödipus. Das ist ja auch nicht lustig.

Es heißt, Sie haben bereits Angebote für ein Remake aus Hollywood?

Wir haben vier Angebote, aber ich sehe das recht gelassen. Wir verhandeln seit drei Jahren über ein Remake von „Funny Games“, jetzt ist der Vertrag endlich fertig. Es steht noch offen, ob ich ihn selbst drehen werde oder jemand anders. Das darf ich mir noch aussuchen.

„Caché“, Regie: Michael Haneke.Mit Daniel Auteuil, Juliette Binocheu. a., Frankreich/Österreich/Italien/Deutschland 2005, 115 Min.