Verliebte Weltzugänge

EHELEBEN Ein gut beschriebenes Paar: Arno Geigers Seitensprungroman „Alles über Sally“

Auch einen Strumpf gegen Krampfadern kann man mögen

VON DIRK KNIPPHALS

Ein Roman über eine 52-jährige Österreicherin, ihre Affären und ihren etwas älteren und (zunächst) etwas vertrottelt wirkenden Ehemann, geschrieben von Arno Geiger, der mit seinem Familienroman „Es geht uns gut“ vor einigen Jahren einen Bestseller landete. Man denkt zunächst: Dies ist ein Buch, das man bestimmt gut in Zügen lesen kann oder während eines kalten, halb eingeschneiten Wochenendes. Kann man derzeit ja gut gebrauchen.

Aber dann erwischt einen der Roman doch zentraler. Man beginnt, das Dargestellte mit den eigenen Gefühlen zu vergleichen. Man beginnt auch, sozusagen in der inneren Bibliothek zu blättern und sich „Madame Bovary“, „Anna Karenina“ und Updikes „Rabbit“-Bücher ins Gedächtnis zu rufen – auf alle diese EhebrecherInnenromane spielt Geiger souverän an; keineswegs aus Bildungshuberei, sondern weil die handelnden Personen diesen literarischen Hintergrund selbst präsent haben, so wie jeder normal gebildete Mensch heutzutage zumindest die tragischen Muster dieser Klassiker präsent hat.

Und, ja doch, man beginnt sich auch zu freuen. Es gibt über Liebesdinge so viele schlechte, kitschige, schmierige, unbedarfte, unterkomplexe, erfahrungsarme, ausgedachte, billige, harmlose, pseudocoole Beschreibungen zu lesen. Jetzt gibt es mit Arno Geigers Roman „Alles über Sally“ also auch eine gute Beschreibung mehr. Schön.

Was einen vor allem erwischt, ist die leise Eleganz, mit der Arno Geiger von dem schreibt, was man in einem Roman rund um eine Ehe erwarten kann: Alltag, Entfremdungsphasen zwischen den Partnern, kleinere und größere Liebesverrätereien und als Fundament des Ganzen ein schwer fasslicher, aber erstaunlich hartnäckiger gemeinsamer Lebensentwurf. Elegant ist der fünfteilige Episodenaufbau, in dessen Mitte, als Rückblick eingefügt, die Kennenlernphase von Sally und Alfred (nur mit Vornamen werden durchgehend alle Figuren bezeichnet) vor zwanzig Jahren in Kairo liegt: Er legt den Grundstein seiner Museumskuratorenlaufbahn, sie ist auf Auslandspraktikum. Umrahmt wird diese Episode von ihrer Affäre, die wiederum an Anfang und Ende des Buches von aktuellen Szenen rund um das Paar gefasst wird.

Elegant ist aber vor allem diese flexible Erzählerstimme. Sie verkämpft sich nicht. Sie analysiert nicht kalt. Aber sie kann ganz sachlich feststellen, wie gut Sally es findet, dass sie sich beim Sex am Beckenknochen ihres Geliebten reiben kann. „Das gefiel ihr, das war richtig geil.“ Gerade bei solchen geschickt gestreuten Details ist Arno Geiger sehr gut. Was man auch an Alfreds Anti-Krampfadern-Strumpf festmachen könnte, der als Leitmotiv von Sallys Abwertungsmechanismen ihres Ehemanns immer wiederkehrt (bis man als Leser den Strumpf fast lieb gewinnt). Und auf der anderen Seite kann dieser Erzähler, ohne gleich selbst ins Mitschwingende zu verfallen, auch emotional hochgetriebene Stimmlagen erzeugen. Dieser Erzähler weiß, dass sich bei Verliebtheiten alle Weltzugänge ändern. Was er bei einem Bad Sallys in der Donau auch gut demonstrieren kann.

Dann bietet der Roman noch zwei großartige literarische Effekte, einen Ulysses- und einen Sopranos-Effekt. Der Ulysses-Effekt kommt im zehnten Kapitel, kurz vor Schluss. In der Manier des inneren Monologs der Molly Bloom bei Joyce („Ja“) lässt Arno Geiger hier Alfreds Gedanken freien Lauf. Es ist geradezu schockartig für den Leser zu erfahren, dass dieser Mann, der beständig auf dem Sofa liegt und Tagebücher schreibt, die niemanden interessieren, keineswegs so ignorant ist, wie man dachte, sondern dass er weiß, was Sally tut, dass er sieht, wie unstet ihr Begehren ist – und dass er sie trotzdem liebt.

Das ist die Stelle, in der Arno Geiger das Geschehen am deutlichsten literarisch überhöht. Ein Heldendenkmal für alle Betrogenen. Und eine unendlich elegante Feier der romantischen Liebe. (Das Schockhafte besteht darin, dass man das literarisch Gekonnte dieses Kapitels genießen kann und zugleich daran erinnert wird, was für Zumutungen das Zusammensein mit einem anderen Menschen bereithält – Lust und Schrecken in einem.)

Das allerletzte, das elfte Kapitel ist dann ein leises Ausfedern der emotionalen Bögen in den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr. Das ist der Sopranos-Effekt. Wie beim legendären Schluss der US-Fernsehserie leuchtet einem sofort ein, dass nur ein offenes Ende einem Roman über menschliche Beziehungen heute angemessen sein kann. Eine Trennung erscheint banal. Aber ein für alle Mal gelöst ist auch nichts, selbst wenn sich Sally und Alfred am Ende noch einmal wieder neu zusammengerauft haben werden.

Arno Geiger: „Alles über Sally“. Hanser Verlag, München 2010, 368 Seiten, 21,50 Euro