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Archiv-Artikel

Wo einen die Eisverkäufer gleich duzen

WOHNPROJEKT Von der Schweiz kam sie 2011 in den Kiez nach Friedrichshain – „Hier gehöre ich einfach hin“, sagt Hannelore Fay

Berlin ist für Hannelore Fay die Krönung ihres Lebens. In diesem Jahr wird sie 70 Jahre alt, aber im Grunde ist der 1. März 2011 ihr neuer Geburtstag: An diesem Tag ist Hannelore Fay aus Olten in der Schweiz nach Friedrichshain gezogen. Aus der Provinz in den Szenekiez. „Ich weiß nicht, warum ich das nicht schon viel früher getan habe“, sagt sie.

Und weiß es eigentlich doch: Ihr Mann, wegen dessen Job es für das Paar 1970 von Wiesbaden in Richtung Schweiz ging, wollte nicht mehr weg von dort. Und später, nach der Trennung vor 16 Jahren, war die Rente noch fern. Vor ihrer Ehe hatte Hannelore Fay als Bekleidungstechnikerin bei Kaufhäusern gearbeitet und sich in Olten gleich um Weiterbildungen gekümmert, um in der Berufsschule des 18.000-Einwohner-Städtchens unterrichten zu können. Diesen Job wolle sie nicht aufgeben – und blieb in der Schweiz. „Ich wollte unbedingt bis zuletzt arbeiten, um die ausreichende Sicherheit danach zu haben.“

Diese ausreichende Sicherheit ist jetzt 75 Quadratmeter groß und hat einen sechsstelligen Betrag gekostet: ihre neue Eigentumswohnung zwischen Frankfurter Allee und Boxhagener Straße, in einem gemeinschaftlichen Wohnprojekt für Frauen. Mit regelmäßigen Kulturabenden und Wanderausflügen, gemeinsamer Gymnastik am Mittwochmorgen und der Feldenkrais-Gruppe am Freitag. „Manchmal wird mir das fast ein bisschen zu viel, denn ich bin ja auch ständig unterwegs“, sagt Fay. Bei den Bürgerversammlungen wegen des Freudenberg- Areals etwa, der letzten großen Brache im Kiez. Ein Investor will dort Wohnungen bauen, Fay kämpft mit einer Bürgerinitiative für die Beteiligung der Anwohner bei den Planungen, für mehr Grünflächen und auch bezahlbare Mieten.

Ihr eigenes Wohnprojekt hat einen Garten mit Sitzgruppen aus Holz und Schilfsträuchern, die Hauswand zur Straße hin ist bunt gefliest. Das habe die Architektin eigens so gemacht, sagt Fay. Denn von Fliesen ließen sich Graffitis besser abwischen. Die zerstochenen Reifen an den Autos einiger Mitbewohnerinnen bald nach dem Einzug konnte das nicht verhindern. „Mich hat das nicht betroffen, denn ich habe ja keinen BMW, den ich irgendwo parken müsste.“

Spaziergänge statt Auto

Hannelore Fay spaziert lieber, sonntags etwa zum Flohmarkt auf dem RAW-Gelände an der Warschauer Straße. Oder zu den Uferwegen entlang der Rummelsburger Bucht. „Das entschädigt ein wenig für den Wald, der in Olten immer so nah lag.“ Vergangenen Sommer war wieder einer ihrer beiden Söhne aus der Schweiz zu Besuch, sie schipperten eine Woche lang mit einem Hausboot über die Spree. Und wenn zu Hause im kleinen Kiezkino unweit ihrer Wohnung eine Astrid-Lindgren-Verfilmung läuft, ist das nicht nur ein Pflichttermin für die Kita aus dem Nachbarhaus: Hannelore Fay kommt dann als Begleitperson mit.

Wenn sie ihren Kiez verlässt und mit der S-Bahn zu Veranstaltungen im Radialsystem, zum Deutschen Historischen Museum oder in die Humboldt Universität zur Ringvorlesung über kritische Migrationsforschung fährt, dann denkt sich Hannelore Fay immer: „Jetzt fahre ich in die Stadt.“ Obwohl Berlin doch gar keine richtige Stadt sei: „Oder würde mich in einer Stadt der Eisverkäufer duzen, wenn ich das erste Mal seinen Laden betrete?“

Sie habe inzwischen gelernt, wie die richtige Antwort auf die Frage, woher sie komme, lautet: „Friedrichshain. Und ich gehöre hier einfach hin.“ SEBASTIAN PUSCHNER