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Archiv-Artikel

Wie wir lernten, den Kunststoff zu lieben

FAHRRADTASCHEN Die Plastikeinkaufstüte soll verboten werden, bei den Radtaschen ist der Kunststoff erste Wahl und dürfte es bleiben. Aus guten Gründen, die auch etwas mit der Natur zu tun haben

Die ersten Radtaschen aus Lkw-Plane revolutionierten den weltweiten Markt

VON GUNNAR FEHLAU

Jute ist gut, Leinen ebenso, Plastik aber das Böse schlechthin. Auch dann, wenn es sich Kunststoff nennt. Die konsequente Einhaltung dieses Glaubensbekenntnisses würde das Leben weniger lebenswert machen, zudem gefährlicher und teurer. Als Beweis für diese These ließen sich Kondome anführen. Oder, noch besser, die Radtaschen. Sie kommen schließlich in jeder Lebenslage und in aller Öffentlichkeit zum Einsatz.

Wer sich auf Radreisen auf Jutebeutel oder Stofftaschen verlässt, muss stets auf gutes Wetter hoffen. Sollte es regnen, ein völlig natürliches Ereignis, werden nicht nur Ross und Reiter nass, sondern in kurzer Zeit auch die komplette Ausrüstung. Mit verheerenden Folgen für die Moral. Das durfte auch Hartmut Ortlieb auf einer Radtour erleben. Genau in dem Moment totaler Verzweiflung und lauten Fluchens über die Unzulänglichkeit des Materials und seine Entscheidung, mit dem Rad in einem südenglischen Landregengebiet herumzufahren, überholte ihn ein Lkw mit Planenaufbau. Den jungen Ortlieb schoss eine Idee durch den Kopf, die sein Leben und das Millionen von Radlern verändern sollte. Kurz danach, im Jahr 1982, nähte er seinen ersten Satz Radtaschen aus Lkw-Plane. Das revolutionierte den weltweiten Markt der Panniers und ließ ihn zum Innovationsführer einer gesamten Branche aufsteigen. Damals, in den 80er Jahren, waren das Radfahren und die Taschenproduktion fest in der Hand der Jutebeutel-Menschen. Die Taschen kamen von Carradice und Karrimore aus Großbritannien oder Cannondale aus den USA. Sie waren weder regendicht noch günstig, aber Stand der Technik.

Das hat sich gewaltig geändert: Cannondale näht keine Radtaschen mehr in den USA, sondern liefert Mountainbikes aus Asien. Carradice-Taschen aus gewachster Baumwolle sind zwar immer noch ein Must-have, aber an sich nur noch bei Tweed-Run- Veranstaltungen. Das sind Events, bei denen Fantasy-Rollenspiel, ADFC-Ortsgruppenausfahrt und die Requisitenkammer des britischen Serienklassikers „Der Doktor und das liebe Vieh“ zusammenkommen. Und Karrimore-Taschen? Findet man eigentlich nur noch an Schubert-&-Schefzyk-Reiserandonneuren, die einen wie die anderen hergestellt in den 80er Jahren. Samstag morgens auf dem Biomarkt wird solch Veteranenstil gern vorgeführt.

Der heutige Markt der Radtaschen ist fest in der Hand von Ortlieb und seinen Epigonen. Recht bald machten sich auch andere Hersteller daran, Fahrradfahrer mit wasserdichten Behältnisse aus Planenmaterial zu versorgen. Firmen wie Vaude oder Agu, aber auch Carradice haben längst Planentaschen im Programm. Mit zahlreichen Patenten und regelmäßigen Neuerungen versucht Platzhirsch Ortlieb jedoch, seine Vorreiterrolle und seinen Marktanteil auszubauen. Generell gilt: Ob Hinterrad- oder Lenkertasche, es gibt kaum eine Radtaschenversion, die nicht auch als wasserdicht angeboten wird. Anders als bei den Einkaufstüten im Supermarkt ist allen Plastikradtaschen gemein, dass sie meist deutlich mehr kosten als ihre Stoff-Pendants. Ob das „teuer“ ist, liegt wie immer im Auge des Betrachters.

Man kauft allerdings keinesfalls einfach nur eine Planentasche, die wasserdicht ist. Nein, man kauft das sichere Gefühl, abends nach einer Tour beliebiger Länge bei egal welchem Wetter nach einer Dusche garantiert trockene Kleidung aus der Tasche holen zu können. Und erst dieses gute Gefühl lässt den Regen für Radler erträglich werden. Doch wenn Lebensfreude und Genuss ins Spiel kommen, sind die Spaßbremsen meist nicht weit. Im Falle der Radtaschen aus Kunststoff ist dies vor allem die Prüfsiegelpresse mit ausgeprägter Schadstoffspürnase. Sie sorgte dafür, dass PVC binnen kürzester Zeit aus den Planentaschen der führenden Hersteller verschwand. Und neuerdings stößt man im Internet, in zahlreichen Fixie- und Urban-Vintage-Blogs und -Foren auf Bestrebungen, die Kunststofftaschen ganz allgemein zum „No Go“ zu erklären. Brooks, Hersteller gediegener Ledersättel, hat anscheinend darauf reagiert – und bietet jetzt eine andere Art von Kunststoffplanentaschen an: in gedeckten Farbtönen und mit historisch anmutenden Applikationen, garantiert wasserdicht. Und wenn schon nicht ökologisch korrekt, so doch stilecht. Spätestens jetzt muss die Jutetasche passen.