: Besser mit Raupenketten dran
WILLE Zwei Jahre lang noch wird Julia ihren Rollator brauchen. Er soll sie lediglich dabei unterstützen, dass sie wieder gesund wird. Doch gibt es Momente, da er alles beherrschend ist in ihrem Leben, weil mit ihm nichts normal ist
VON THOMAS FEIX (TEXT) UND OLIVER SPERL (ILLUSTRATION)
So jung und schon am Rollator. Ein Vierteljahr lang hat Julia geübt. Sich an beiden Griffen aufrecht zu halten, das Gerät zu schieben, das vier Räder hat, und dabei Schritte vorwärts zu machen. Anfangs in Begleitung einer Krankenschwester für Minuten den Klinikflur entlang.
So jung und schon am Rollator, sprechen Frauen Julia jetzt manchmal auf der Straße an. Frauen, die viel älter als Julia sind und gleich ihr einen Rollator als Gehhilfe haben.
Dreißig ist Julia Schüler – die anders heißt, eigentlich – dieses Frühjahr geworden. Studentin der Neueren deutschen Literatur und Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, zwölf Semester bisher. An einer Seitenstraße im Bezirk Neukölln wohnt sie mit Blick auf eine Kirche, auf renovierte Mietshäuser, auf Bio-Imbiss und Bio-Café. Der U-Bahnhof Hermannstraße ist in der Nähe.
Schmal ist Julia, so schmal, dass sie abgemagert wirkt. Mittelgroß, kurzes brünettes Haar, blaugraue Augen, Brille mit Horngestell. Keinen Schmuck, keine Schminke, auch kein Beiwerk an der Kleidung, das das Unauffällige brechen würde.
Unwägbarkeit
Manchmal denke sie, sagt sie, dass die Leute über sie denken, dass sie einen Rollator hat, weil sie Beachtung will, Aufmerksamkeit. Auf dem Weg zum Supermarkt hat ein Junge sie einmal gefragt, warum sie das mache, der Rollator und sie, warum. Sie hat ihm nicht geantwortet.
Sie ist froh darüber, dass sie mithilfe des Rollators wieder gehen kann. Allein Instrument des Übergangs vom Kranksein zum Gesundwerden soll er dabei sein, nicht Mittelpunkt ihres Daseins. Wie hätte ich das dem Jungen erklären sollen, sagt sie.
Einem anderen Jungen hat sie geantwortet. Ja, sagte sie zu ihm, als er ihr „He, alte Oma“ zurief. „Ja, hast recht, stimmt.“ Sie hoffte darauf, dass er die Ironie in ihrer Antwort bemerkt. Sein Vater musste ihn jedoch daran hindern, dass er ihr noch ein zweites Mal „Oma“ hinterherrief.
Gut tut es ihr, wenn jemand sie um Auskunft zu einer bestimmten Straße oder zu einem bestimmten Haus in der Umgegend bittet. Es ist genau das Alltägliche, das sie braucht.
Mach langsam, sagen die zu ihr, die ihr nahe sind. Was sonst, antwortet sie ihnen, anders als langsam zu machen, kann ich nicht. Ein Jahr lang ist sie jetzt am Rollator. Da ist auch diese Peinlichkeit, mit der sie seine Gegenwart verknüpft, die sie empfindet. Jeder sieht sie mit ihm. Obwohl er seine Vorteile für sie hat. Er ist nicht nur körperliche Stütze, er kann ihr ebenso gut Schutz sein, wie sie festgestellt hat. Das war, als sie mit ihrem Vater untergehakt einkaufen war. Den Rollator hatte sie zu Hause gelassen. An der Kasse hat Julia ohne den Vater gestanden, unsicher, zitterig und unbeholfen. In der Warteschlange war sie deshalb als Hindernis aufgefallen, sie rückte nicht ordnungsgemäß nach, und ein Mann hinter ihr begann sie zu beschimpfen. Hätte sie den Rollator dabeigehabt, sagt sie, hätte er sie nicht so angegriffen.
Vor dem Rollator ist Julia ein halbes Jahr lang im Rollstuhl gefahren, von Oktober 2011 bis zum März letzten Jahres. Zuerst in der Charité, dem Krankenhaus in Berlin-Mitte, in das sie aus der Klinik in Barcelona überstellt worden war. Dann im Rehabilitationskrankenhaus in Brandenburg. Während der Zeit in Brandenburg hat sie auch mit dem Rollator zu üben angefangen. Inzwischen ist sie ungeduldig geworden, es geht ihr mit der Heilung nicht schnell genug voran, seit die Krankheit sie im August des vorvergangenen Jahres getroffen hatte.
Ihren Freund hatte sie für drei Tage besucht, Yann, einen Franzosen aus der Bretagne, der in Barcelona lebt und arbeitet. Ein Jahr lang ist sie jeden Monat für drei Tage bei ihm gewesen.
Am Tag des Rückflugs, einige Stunden vor Abfahrt zum Flughafen, war ihr plötzlich unwohl geworden. Sie hatte Kopfschmerzen, erbrach sich, schwitzte, hatte Mühe zu sprechen. Aber sie dachte an nichts Schlimmes, sie legte sich ins Bett und versuchte zu schlafen. Schlafmangel, vermutete sie.
Yann aber hatte so eine Ahnung, er rief die Ambulanz, die sie ins Krankenhaus schaffte. Dort ist Julia ohnmächtig geworden. Yann hat mir das Leben gerettet, sagt sie.
Heute glaubt sie, dass sie damals im Krankenhaus in Barcelona im Koma gelegen hat. Wie lange sie ohne Bewusstsein war, weiß sie nicht.
Ihr Kopf war kahlrasiert, als sie aufwachte, alle Haare ab. Man teilte ihr mit, dass ein Aneurysma bei ihr im Hirn die Ursache der Krankheit ist. Gefäßerweiterungen durch Flüssigkeitsansammlung, die geplatzt sind, und dass sie dadurch einen Schlaganfall erlitten hat. Veranlagung, sagten die Ärzte zu ihr, als sie schon in der Charité war. Einen Monat lang hatte sie im Krankenhaus in Barcelona zugebracht, dann hat ein Sanitätsflugzeug sie nach Berlin geflogen.
Wahrscheinlich mehr der Stress die Jahre über als das Aneurysma, sagt Julia, und dann am Unglückstag die Vorbereitung auf den Rückflug, die hektisch war. Wahrscheinlich der Gedanke ans Studium, das sie ihrer zahlreichen Nebentätigkeiten wegen vernachlässigt hatte. So sehr, dass sie bald weder zu Vorlesungen noch zu Seminaren gegangen war.
Verkäuferin in einer Bäckerei in Schöneberg war sie nebenbei, Bedienung in einem Café in Prenzlauer Berg und in einer Bar in Friedrichshain. Manchmal war sie an allen drei Arbeitsstellen nacheinander am Tag. Dazu ein Klub und eine Bar in Kreuzberg. Sechs-, siebenmal die Woche auf Arbeit, fürs Studium blieb da keine Zeit. Wahrscheinlich, sagt sie, war der unablässige Gedanke daran der Auslöser für den Schlaganfall.
Yann ist nicht mehr ihr Freund, sie hat sich von ihm getrennt. Sie hat das Gefühl ge-habt, dass er nicht versteht, was durch die Krankheit mit ihr passiert. Vielleicht waren es die Haare, die alle ab waren, sagt sie.
Nach Barcelona auszuwandern, hatte sie vorgehabt, ehe sie krank geworden war, hin zu Yann, eine große Wohnung nehmen und mit ihm zusammenleben. Vielleicht hatte er schon das nicht verstanden, sagt sie.
In einer Bar wollte sie arbeiten, einen Spanischkurs machen und endlich die Magisterarbeit schreiben. Aber sie hatte noch nicht einmal die Prüfungen an der Humboldt-Universität abgelegt. Seminarscheine fehlten ihr auch.
Manchmal spürt sie es gar nicht, dass der Rollator da ist. Dann wieder ist er alles beherrschend bei ihr, beherrscht ihr Denken, ihr Fühlen, ihr Tun. Dabei sollte er ihr doch nichts als Instrument sein. Mir geht es schon beschissen am Rollator. Scheiß-U-Bahnhof ohne Fahrstuhl, Scheißgehsteig, der hohe Kanten hat, uneben ist und voller Löcher, Scheißfahrdamm vor dem Haus, der mit wie aufgequollenen glatten Steinen gepflastert ist. Wünschte mir darum einen Rollator mit Raupenketten dran statt mit Rädern oder wenigstens eine Art Offroader-Rollator.
Ich weiß natürlich, sagt sie, dass ich nicht der einzige Mensch auf der Welt bin, dem es schlecht geht. Anderen geht es wahrscheinlich noch viel schlechter.
Schicksal
Jeder hat Probleme, mit denen er leben muss, und kann und will vielleicht daher die Not nicht beachten, die ich habe, mit dem Rollator, der Zeichen dafür ist, dass ich behindert bin.
Aber manchmal kann sie das nicht, das Schicksal bei allen anderen sehen. Dann redet sie anders darüber. Dann sieht sie aus Sicht einer Kranken die Menschen in ihrer Umgebung als selbstgerecht an. Julia meint dann, dass sie aus Überheblichkeit heraus nicht willens seien, sie in ihrem Leid zu würdigen, und sich deswegen bewusst von ihr abwenden. Sie selbst hält sich dann für tiefgründiger in ihren Überlegungen und Betrachtungen als alle anderen. Selbstverständlich ist das Unsinn, es ist die überspitzte Sicht einer Behinderten, sagt sie, nachdem sie sich wieder fängt.
Der Rollator ist nicht das Einzige. Es gibt vieles andere nebenher bei ihr, und er ist nur Teil davon, sagt sie. Sie will sich nicht höher stellen als andere Menschen. Sie fühlt sich ihnen gegenüber aber auch nicht als unterlegen, nur weil der Rollator da ist. Rücksichtnahme ihr gegenüber wähnt sie bloß oft zu vermissen. Nur haben andere, sagt sie, ebenfalls Rücksichtnahme nötig. Sie sind auch oft schlecht dran, aber man sieht es bei ihnen nicht wie bei ihr am Rollator, meint sie, meint sie versöhnlich.
Der Rollator ermöglicht ihr, dass sie sich fortbewegen, dass sie aus der Wohnung hinaus hinunter auf die Straße kann. Sie wäre sonst ausschließlich zu Hause, wäre dort wie eingesperrt, hätte sie den Rollator nicht. Er bedeutet Unabhängigkeit für sie. Selbst einkaufen zu können, ist sehr wichtig fürs Selbstbewusstsein, fürs Selbstwertgefühl, sagt sie.
Zwei Jahre lang noch wird es dauern, bis sie wieder selbstständig und ohne Rollator sein wird, hat der Arzt gesagt. Er hat ihr auch gesagt, dass er richtig zusehen kann, wie es besser mit ihr wird. Das Sprechvermögen hat sie beinahe wiedererlangt. Noch spricht sie zu nasal, findet sie, und auch das Flimmern der Zunge hat bisher nicht ganz aufgehört. Julia hat den Willen dazu, beides ohne Einschränkung wiederzuerlangen, zu sprechen und zu gehen.
Routine
Von montags bis donnerstags ist sie im Rehabilitationszentrum, fünf Stunden lang jedes Mal. Um elf am Vormittag holt sie der Fahrdienst ab. Um zwölf geht es los, Logopädie, Physiotherapie, Fein- und Grobmotorik, Konzentrationstraining. In Anwesenheit eines Pflegers probiert sie darüber hinaus seit Kurzem für eine halbe Stunde das Gehen auf der Straße ohne Rollator.
Um siebzehn Uhr bringt der Fahrdienst sie wieder nach Hause. Dort schläft sie erst einmal, dann isst sie. Sie isst immer richtig viel, sie will zunehmen. Um die fünfzig Kilogramm hat sie, in der Charité waren es weniger, kaum siebenundvierzig.
Der Jüngste am Rollator, den Julia kennt, ist gerade mal neunzehn. Vom Aufenthalt in Brandenburg her kennt sie ihn. Betrunken war Lukas vom S-Bahnsteig auf die Gleise gesprungen, weil er auf einmal die Idee hatte, die S-Bahnlinie zu wechseln. Ein einfahrender Zug erfasste ihn. Jetzt sind die Beine kaputt. Er kann sie zwar noch bewegen, aber am Rollator wird er wohl sein Leben lang bleiben. Niemals würde Lukas über den Rollator und seine Erfahrungen mit Isolation, mit Rücksichtnahme reden, öffentlich gleich gar nicht.
Ganz anders als sie.