: Briefe des Glücks
DREIECKSGESCHICHTE Flucht in die Alpen und in die Liebe: Peter Schneiders Buch „Die Lieben meiner Mutter“
VON RENÉ HAMANN
Dieses Buch muss man in Schutz nehmen. Sein Autor ist natürlich als 68er bekannt, seine Erzählung „Lenz“ von 1973 gehört zu den größten Texten, die in Folge von 1968 geschrieben worden sind. Und natürlich gehören Faschismusaufarbeitung wie auch „sexuelle Revolution“ zu den großen Themen von 68 – und sind ausschlaggebend für Peter Schneiders neues Buch „Die Lieben meiner Mutter“.
Tatsächlich aber erzählt diese Drei- bis Mehrecksgeschichte zwischen der Mutter des Autors, ihrem Ehemann und dessen Freund, ihrem Geliebten, die während des Zweiten Weltkriegs und danach stattfand und in Briefen überliefert wurde, sehr, sehr viel über Liebesbeziehungen heutzutage und die menschliche Psyche – ja, doch! – und seine realen Hindernisse wie Auswirkungen generell.
Trotzdem muss Peter Schneider, inzwischen 73-jährig, in Interviews immer wieder Fragen nach 68 und der damals verhandelten „freien Liebe“ beantworten, und wie das in diesem Buch geschilderte Geschehen damit zu vergleichen wäre. Oberflächlich gesehen mag es erstaunen, dass Schneider die Geschichte einer Frau erzählt, die aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammt, mit einem Komponisten verheiratet ist, mit ihm vier Kinder hat, und ganz mit seinem Einverständnis ein langjähriges Verhältnis zu dessen Freund, einem erfolgreichen Opernregisseur, gepflegt hat. Mutter mit vier Kindern, die ihren Mann mit dessen Freund betrügt! Und nachher noch andere Liebhaber hat. Und der Ehemann duldet es. Befördert es sogar. Hinter dieser Ménage-à-trois steckt aber weitaus mehr als ein vorweggenommenes „revolutionäres“ Liebeskonzept.
In „Die Lieben meiner Mutter“ wird die Psychogeschichte einer Mutter erzählt, einer Frau, die enorm liebesbedürftig ist, nicht in einem passiven, sondern in einem aktiven Sinn: Sie sucht sich ihr Liebesobjekt selbst aus, aller realen Hindernisse zum Trotz.
Und der Hindernisse sind naturgemäß viele. Um die „bürgerliche Moral“ geht es dabei weniger. Es geht darum, wie man vier hungrige Mäuler durch Zeiten der Not und Entbehrung bringt. Wie man an den Bombeneinschlägen der alliierten Luftwaffen vorbei mit dem Zug durch Deutschland reist. Wie man sich gegen bornierte Verwandte durchsetzt. Wie man vor der sich nähernden Roten Armee in eine bayerische Sackgasse in den Alpen flüchtet. Und sich in den raren freien Minuten zu einer Liebesbriefschreiberin entwickelt, deren Stil den mitlesenden Sohn und durchaus erfolgreichen Schriftsteller noch immer tief beeindruckt.
Ob das Gebaren – die liebeshungrige Frau ist bei ihrem Mann in Sachen Leidenschaft trotz gemeinsamer Kinder einfach nicht an der richtigen Adresse – nun skandalös oder moralisch fortschrittlich ist, spielt im Grunde also keine Rolle. Die Zeiten sind hart, die Menschen müssen sich zu helfen wissen. Und im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt. Das ist das eine. Das andere ist, dass die auch zunehmend depressive Frau ein seelisches Defizit hat, das auch der stets auf Distanz bleibende Geliebte nicht zu füllen vermag. Und über das Buch hinaus bleibt genau das erstaunlich: Wieso läuft eine Frau, die wahrlich anderes zu tun hat, über Jahre mehr oder weniger erfolglos einem Mann hinterher, der, wie es auch im Buch heißt, „mit seiner Arbeit verheiratet“ ist, ganz davon abgesehen, dass es noch ein, zwei andere Frauen gibt? Es ist enorm spannend, diese Entwicklungen nachzuvollziehen. Inklusive dem Getöse ringsum. Krieg, Arbeit, Flucht, Nachkriegszeit. Es gibt noch eine Kindergeschichte, die in diesem mitreißend und empathisch erzählten Buch eine Rolle spielt: Bildnis des Autors als junges Opfer eines Kindertyranns, des etwas älteren Problemkinds Willy.
„Das Glück wird oft beschrieben als der Augenblick, in dem jeder Gedanke an die Vergangenheit oder Zukunft abgeschaltet ist. Diese Beschreibung trifft ebenso auf die Momente des Schreckens zu, von denen man nicht weiß, ob man sie überlebt“ – in diesen zwei Sätzen ist die psychologische Ebene dieses Buchs gut zusammengefasst. Darüber hinaus schafft es Schneider, das Zeitkolorit präzise einzufangen; das bayerische Kaff Grainau und seine Bewohner im Schatten der Zugspitze samt ihrer lustig-beengten Geschichte zu erzählen; einen guten Blick auf die späten vierziger und die frühen fünfziger Jahre zu werfen, auf die Zeit vor der Prüderie.
Eins noch: Der Verlag nennt das Buch „Roman“. Der Autor nennt es „Autofiktion“. Selten war eine Labellierung so egal.
■ Peter Schneider: „Die Lieben meiner Mutter“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013, 304 Seiten, 19,99 Euro