: Gutachten soll Zeugin kippen
Im Mordprozess Hatun Sürücü wollen die Verteidiger die Hauptbelastungszeugin psychologisch begutachten lassen. Der jüngste Bruder gilt als voll schuldfähig
Im so genannten Ehrenmordprozess geht die Verteidigung in die Offensive. Rechtsanwalt Heinz Möller, der den ältesten der drei angeklagten Sürücü-Brüder vertritt, hat gestern vor Gericht ein psychologisches Gutachten der Hauptbelastungszeugin Melek A. beantragt. Seine These: Die Zeugin leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Deshalb sei ihrer Aussage „kein erheblicher oder gar kein“ Wert beizumessen. Kommt die Verteidigung mit dieser Argumentation durch, würde das die Glaubwürdigkeit der Zeugin schwer erschüttern. Von ihr hängt es maßgeblich ab, ob die beiden älteren Brüder verurteilt werden. Wann das Gericht über den Antrag entscheidet, ist unklar.
Mutlu (26), Alpaslan (25) und Ayhan Sürücü (19) werden beschuldigt, gemeinsam ihre Schwester Hatun getötet zu haben, weil deren Lebensstil die Familienehre verletzt habe. Zu Beginn des Prozesses hat der jüngste Bruder die Schuld auf sich genommen, die beiden älteren bestreiten jede Mitschuld. Melek A. war zur Tatzeit Ayhans Freundin, ihr gegenüber hat er sich offenbart. Sie hat bei der Polizei eine umfassende Aussage gemacht und darin alle drei Brüder schwer belastet: Mutlu soll die Waffe besorgt, Alpaslan Schmiere gestanden und Ayhan seine Schwester erschossen haben.
Das Problem: Das meiste weiß Melek aus Ayhans Erzählungen. Dieser hat ausgesagt, seiner Freundin nicht die Wahrheit berichtet zu haben. Die wenigen Aussagen, die Melek direkt von den älteren Brüdern gehört hat, hat sie bei der Polizei nicht erwähnt, sondern erst im Prozess. Die Verteidiger versuchen nun, dies mit einer psychischen Erkrankung zu erklären. Um eigene Schuldgefühle zu vermeiden, binde Melek A. die Sürücüs immer stärker in die Schuldfrage ein. Schließlich habe sie von der Tat gewusst und diese nicht verhindert.
Zupass kommen dürften der Verteidigung auch die Aussagen des Psychiaters Ulrich Giese, der Ayhan psychologisch begutachtet hat. Nach dessen Einschätzung hat der 19-Jährige zunehmend die Rolle des Familienoberhauptes übernommen. „Das hat ihn überfordert“, so Giese. Die älteren Brüder, namentlich Mutlu und Alpaslan, hätten sich nach Ayhans Ansicht über die Familie keine Gedanken gemacht. Sie seien mit ihrem eigenen Leben nicht klar gekommen. Das kann man als Unterstützung für die Theorie einer Alleintäterschaft Ayhans interpretieren. Nach Gieses Einschätzung ist Ayhan, der juristisch als Heranwachsender gilt, noch mit einem Jugendlichen gleichzusetzen. Er müsste deshalb nach dem Jugendstrafrecht verurteilt werden. Ein verminderte Schuldfähigkeit und eine Affekthandlung schloss er aus. SABINE AM ORDE