: Nichts ist, wie es scheint
DAS GROSSE GLAS In ihrer Ausstellung „Through the Looking Glass“ reflektiert Susanne Winterling die Räume des Badischen Kunstvereins in Karlsruhe
Man kann sich den Lärm gut vorstellen, als die Tür mitsamt Sturz und riesigem Medaillon mit dem Bild des Großherzogs herunterkrachte. Jetzt liegt er auf dem Boden, schwarz und massig. Man muss über ihn hinwegklettern, wenn man in die Ausstellung will. Und dabei hängt er doch immer noch an der Wand, repräsentativ wie eh und je. Denn Susanne Winterling hat den generösen Stifter des Kunstvereinshauses, das er 1900 extra bauen ließ, natürlich nicht angetastet, sondern nur die Form heruntergeklappt, die wie ein Schatten am Boden liegt, über den man steigen muss. Es ist wie in Lewis Carrolls Roman „Through the Looking Glass“, der der Ausstellung ihren Titel gab: Nichts ist, wie es scheint, alles verwandelt sich, und hinter dem Spiegel liegt eine ganz andere Welt, die es zu entdecken gilt.
Und so sind im Großen Saal schwarze und silberne Spiegelplatten wie ein Schachbrettmuster verteilt, darauf liegen und stehen einige persönliche Gegenstände der Künstlerin, mit etwas Geschick findet man einen Weg durch das spiegelnde Muster kann und sich die Dinge genau ansehen: etwas verkrumpeltes Zelluloid, eine Feder, deren Kiel grob mit Draht umwickelt ist, ein Würfel mit sechs Augen oben, drei große, schwer aussehende Fingerringe, eine Pyramide, drei tanzende Porzellanpüppchen, ein künstliches Auge. Bis man den Clou des Ganzen entdeckt: In den kleinen, gebrochenen Plexiglasscheiben spiegelt sich das riesige, gebrochene Oberlicht, der Raum verdoppelt sich im Moment des Herunterbeugens.
Auch im unteren Lichtsaal hat Winterling durch geschickt angebrachte Spiegel die alten Säulen verdoppelt – so wie es früher einmal war. Sogar das Fenster hoch oben hat seinen alten Gegenpart wiederbekommen. Sie bringt erneut die Gegenstände auf dem Schachbrettmuster ins Spiel, verwandelt sie und verleiht ihnen andere Facetten, lässt sie Geschichten erzählen, die nicht eindeutig zuzuordnen sind: Die Feder taucht in einer Fotoserie wieder auf, die Winterling auf der Stuttgarter Solitude aufgenommen hat, mit einigen Mädchen, die ein indianisch anmutendes Armband tragen, mit einer solchen Feder. In einem Kurzfilm, den sie auf 16 mm gedreht hat, sieht man drei Mädchen in einem engen Kreis und sich langsam statuarisch drehen, wie die Porzellanpüppchen. Das Zelluloid bildet in einem kleinen Nebenraum eine Bordüre etc. Und wie filmische Überblendungen wirken auch Winterlings Collagen, in denen Annemarie Schwarzenbach, Carson McCullers, Nancy Cunard oder Tilda Swinton auftauchen. Hinzugefügt hat sie einige Originale aus dem Briefwechsel zwischen Scharzenbach und McCullers, die sich 1940 kennen und lieben lernten, die Winterling im April in einem Schweizer Verlag veröffentlichen wird.
Es ist eine leise, beziehungsreiche Ausstellung, mit der Susanne Winterling den Badischen Kunstverein verwandelt hat. „Through the Looking Glass“ erzählt von Metamorphosen des Raums. So greift Susanne M. Winterling in ihren Filmen, in denen hinter den Mädchen die Säulen einer Halle zu sehen sind, die Insignien der Bürgerlichkeit des 19. Jahrhunderts auf; legt verschüttete Architekturspuren archäologisch frei oder ergänzt sie zu neuen Ensembles. Mit ihrer Sound-Installation „Glasakt, eine Treppe heruntersteigend“ im Lichthof kommt dann noch der imaginäre, destruktive Eingriff in die Architektur dazu: Es hört sich an, als ob jemand über splitterndes Glas läuft, und unwillkürlich erwartet man, dass die Fenster zu Bruch gehen und auch die Fensterdecken in tausenden von Scherben herunterbersten. Doch nichts ist so, wie es scheint – und so bleiben die Fensterspiegel heil. Die Realität hat sich unterdessen verändert. GEORG PATZER
■ Bis 5. April, Badischer Kunstverein, Karlsruhe