: „Eine neue Debatte über Armut“
HART IV 1 Das Gerichtsurteil hat Bedürftige in den Fokus gerückt, meint der Chef der Gaststätten-Gewerkschaft, Möllenberg, und sieht bessere Chancen für Mindestlöhne
■ 56, ist seit 1992 Vorsitzender der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und gelernter Bankkaufmann.
INTERVIEW ULRICH SCHULTE
taz: Herr Möllenberg, die Hartz-IV-Sätze sind verfassungswidrig. Befeuert das eine neue Debatte über Armut?
Franz-Josef Möllenberg: Ich bin fest davon überzeugt, dass wir eine neue Armutsdebatte in Deutschland erleben werden. In den vergangenen Jahren hat in dieser Gesellschaft eine Polarisierung zwischen Arm und Reich stattgefunden. Durch die schwarz-gelbe Politik wird das Auseinanderdriften verstärkt, weil sie vor allem Besserverdienende fokussiert. Durch das Urteil entsteht jetzt ein ganz anderer Druck auf die Bundesregierung, auch die Interessen bedürftiger Menschen wahrzunehmen.
Die FDP soll plötzlich deren Interessen wahrnehmen?
Nein, es gibt natürlich keinen Automatismus. Die Gewerkschaften müssen höllisch aufpassen, sonst verteilt die Regierung lediglich Mittel zwischen Arbeitslosen um – gibt etwa Familien etwas mehr für Bildung ihrer Kinder, kürzt dafür aber bei Erwachsenen. Da reicht es nicht als Gewerkschaft, sich auf die Straße zu stellen und die Fahne zu hissen.
Die Regierung will bestehende Mindestlöhne prüfen. Und scheint eher darauf zu hoffen, dass sie die Hartz-IV-Sätze nicht stark verändern muss.
Die Menschen haben sich im vergangenen September von der FDP-Parole „Mehr Netto vom Brutto“ einfangen lassen. Nach gut 100 Tagen Regierung ist die Realität aber eine andere, das haben die Menschen auch begriffen. Meine Prognose ist: Deshalb bekommt die Debatte neuen Schwung, Kinderarmut und Lohnarmut oder Mindestlöhne werden jetzt offensiv diskutiert . Dafür werden wir sorgen.
Was macht Sie so optimistisch, dass die Hartz-IV-Sätze steigen? Das Gericht hat nur eine andere Berechnung angeordnet.
Das Gericht hat ausdrücklich auf den Artikel 1 des Grundgesetzes zur Würde des Menschen Bezug genommen. Diesem widersprechen die derzeitigen Sätze. Und diese Aussage stimmt mich hoffnungsfroh.
Wie würde sich eine Erhöhung der Sätze auf den Niedriglohnsektor auswirken?
Eine Erhöhung würde sich positiv auswirken. Es wird ja derzeit gerne über das so genannte Lohnabstandsgebot geredet, nach dem Arbeitende mehr Geld haben sollen als Arbeitslose. Insofern brauchen wir jetzt einmal mehr existenzsichernde Löhne. Der vom Bundestag beschlossene Pfändungsfreibetrag liegt bei 987 Euro netto für einen Einpersonenhaushalt. So viel muss ein Alleinverdiener mindestens bekommen, das entspricht einem Mindestlohn von 7,50 Euro.
Das ist Ihre politische Forderung. Aber strahlen hohen Hartz-IV-Sätze tatsächlich auf den Arbeitsmarkt aus?
Es gibt 1,4 Millionen arbeitende Menschen im Land, deren Gehalt die Behörden aufstocken müssen. Allein diese Aufstockerregelung kostet den Staat jedes Jahr über 4 Milliarden Euro. Wenn die Hartz-IV-Sätze steigen, wird auch die Zahl der Aufstocker steigen. Wenigstens CDU und CSU können nicht ernsthaft wollen, dass eine solche Subventionierung zum Dauerzustand wird. Ein Mindestlohn würde außerdem stärkere Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern bewirken, weil vor allem Frauen für Niedriglöhne arbeiten. All dies zu ignorieren, sprengt eine Gesellschaft.