MACHTNÄHE IST GEFÄHRLICH FÜR DIE SOZIALE BEWEGUNG LATEINAMERIKAS
: Bleibt unabhängig!

Der zweite Teil des diesjährigen, erstmals „polyzentrischen“ Weltsozialforums in Caracas hatte eine zentrale Frage: Wie halten es die sozialen Bewegungen Lateinamerikas mit den neu gewählten „linken“ Regierungen der Region? Dass darüber kein Konsens gefunden wurde, kann nicht überraschen – denn auch die andere Seite der Frage ist noch weitgehend unbeantwortet: Wie halten es die Regierungen mit den sozialen Bewegungen?

Die ersten Erfahrungen sind ernüchternd. Mit der Festigung der Macht des Präsidenten Hugo Chávez scheint in Venezuela der Spielraum von Basisbewegungen immer enger zu werden. Dabei waren sie es, die der „bolivarischen Revolution“ jenseits der – notwendigen – von oben organisierten Umverteilung Leben einhauchen könnten.

In Uruguay, wo vor gut einem Jahr eine linke Regierung die Macht antrat, kämpft selbige jetzt mit recht widerlichen Mitteln gegen Umweltgruppen, die gegen die umweltverschmutzenden Zellulosefabriken am Rio de la Plata protestieren, und in Brasilien steht Präsident Lula da Silva seit Jahr und Tag in der Kritik linker Teile seiner Arbeiterpartei und insbesondere der Landlosenbewegung MST.

Die eigentlich nahe liegende Hoffnung, unter Regierungen mit ähnlichen ideologischen Wurzeln, die noch dazu von Persönlichkeiten getragen werden, die selbst eine Vergangenheit in den sozialen Bewegungen haben, müsste sich der Spielraum für Selbstorganisation erweitern, scheint sich nicht zu erfüllen. Boliviens neuer Präsident Evo Morales hat alles darangesetzt, möglichst viele Führungsfiguren der sozialen Kämpfe in sein Kabinett einzubinden. Für die Bewegungen ist das wie ein Signal, dass sie ihren Teil nun beigetragen haben – und eigentlich überflüssig sind.

Viele Debattierenden auf dem Weltsozialforum vertraten die Ansicht, man müsse die plötzliche Nähe zu einigen der Regierungen ausnutzen, um den eigenen Einfluss zu stärken. Also Kooperation statt Konfrontation. Klingt logisch – doch für die Forumsidee einer unabhängigen Kritik von unten wäre das der Todesstoß. Die aber wird weiter dringend gebraucht. BERND PICKERT