: Tillich wartet nicht auf Bundesgelder
SACHSEN In der Altstadt von Pirna standen am Dienstag die ersten Straßenzüge unter Wasser. Doch der Scheitelpunkt der Elbeflut wird erst für heute erwartet – der Pegel dürfte das Niveau von 2002 erreichen
AUS PIRNA MICHAEL BARTSCH
Pirna ist Passau ist Grimma, Döbeln oder Halle. Die 20 Kilometer vor Dresden gelegene sächsische Stadt bereitet sich auf den für heute erwarteten Scheitel der Elbe-Flutwelle vor. Der Pegel wird vermutlich das Niveau des Jahrhunderthochwassers von 2002 wieder erreichen. In den elbnahen Wohngebieten packen Bürger – teils unter Tränen – Hausrat in ihre Autos, schaffen Möbel in die oberen Etagen. Vor dem einzigen geöffneten Bäckerladen in der historischen Altstadt steht eine lange Schlange. Sogar die Energieversorgung ist in einigen Vierteln ausgesetzt, Bankautomaten spucken kein Geld mehr aus – und Schulkinder haben Flutferien.
Für eine Viertelstunde pilgerte am Dienstag auch die Kanzlerin an die Pirnaer Elbwasserkante, nachdem sie zuvor mit Rettungskräften geredet hatte. Viel erwarteten die Schaulustigen nicht von ihr: „Sie kann sowieso nicht halten, was sie verspricht“, meint ein älterer Herr. Auch die Jugendlichen sind eigentlich nur gekommen, um die „Katastrophentouristin“ auszubuhen. Ungewollt ruft Angela Merkel Erinnerungen an den August 2002 hervor, als ihr Vorgänger Gerhard Schröder mit viereinhalb Milliarden Euro Bundeshilfe für Sachsen und Sachsen-Anhalt noch einmal eine Bundestagswahl gewann. Viele Pirnaer haben das nicht vergessen.
Neue Hilfszusagen über die 100 Millionen Euro Soforthilfe, die sie am Dienstagmorgen bereits im bayerischen Passau versprochen hatte, hat die Kanzlerin in Pirna nicht im Gepäck. Doch offenbar will sich Sachsen nicht auf schnelles Hilfsgeld vom Bund verlassen.
Als die Kanzlerin abgefahren ist, gibt Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) ein vom Kabinett beschlossenes Sofortprogramm von 30 Millionen Euro bekannt. „Damit gehen wir in Vorleistung“, sagt Tillich. 400 Euro für Erwachsene, 250 für Kinder sollen Evakuierte und vom Wohnungsverlust Betroffene mit dem Nötigsten versorgen. „Die tatsächlich entstandenen Schäden regulieren wir später“, fügt der Ministerpräsident hinzu.
Landtag paralysiert
Schadensregulierung ist auch ein Thema, auf das sich der begleitende Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) ansprechen lässt. Wenn es allerdings um die mangelnde Bereitschaft von Versicherungen geht, gerade nach der Flut 2002 auch Hochwasserrisiken bei Gebäudeeigentümern oder Mietern abzusichern, sieht er keine Einflussmöglichkeiten. Viele Opfer stehen jetzt ohne Versicherungsschutz da. Das weiß auch der ratlose Innenminister, der nur ergänzt: „Wir wollen ja, dass die Leute den Mut behalten!“
Nach schlechten Erfahrungen in einigen Hochwassergebieten (Interview unten) kündigte Ministerpräsident Tillich außerdem eine Bundesratsinitiative an, die Blockaden von Hochwasserschutzbauten durch Bürger oder Naturschutzverbände erschweren soll. „Hier muss das Individualrecht hinter dem Gemeinschaftsrecht zurückstehen“, forderte er.
Mobile Hochwasserschutzwände könnten zumindest der Dresdner Altstadt in den nächsten Tagen eine Überflutung ersparen. Hier wie an der mittleren und unteren Elbe steht das Schlimmste noch bevor. In Ostthüringen – sowie in der bayerischen Donaugegend – gehen die Pegel hingegen zurück, ebenso an der Neiße. Das Abflauen des Regens sorgt auch an den Erzgebirgsflüssen für eine leichte Entspannung. In Dresden aber ist die Arbeit des sächsischen Parlaments wegen des unmittelbar hochwassergefährdeten Landtags praktisch paralysiert. Auch die Vorstellungen des Staatsschauspiels fallen aus. Das überflutete Meißen sagte sein Literaturfest ab. Halle verzichtet gar auf die überregional renommierten Händel-Festspiele.