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Archiv-Artikel

Utopien einer postidentitären Welt

LEBENSLÄUFE Zur Reihe „Home-Exit/Home“ lädt das poesiefestival berlin zehn Dichter aus der ganzen Welt in die Akademie der Künste ein. Was alle verbindet, ist die Erfahrung der Emigration

Heimat in der Fremde

Ob wegen äußeren Zwängen oder aus Sehnsucht nach der Ferne – viele Dichter lassen ihr Zuhause hinter sich und schöpfen aus dieser Erfahrung eine ganz eigene Motivation zum Schreiben. Am Samstag beginnt die Reihe „Home-Exit/Home“ des poesiefestivals berlin, bei der zehn renommierte Dichter an fünf Abenden aus ihren Texten lesen und über Abschied, Exil und Rückkehr und über die Beziehung von Heimat und Sprache sprechen. Die Reihe wird ins Deutsche und Englische gedolmetscht.

■ Home-Exit/Home: Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, 8.–13. 6., Programm: www.literaturwerkstatt.org

VON CATARINA VON WEDEMEYER

Es kam einmal ein Dichter nach Paris. Er verliebte sich, heiratete – und durfte nicht mehr zurück in sein Heimatland. Die Französin, die Breyten Breytenbach liebte, war vietnamesischer Abstammung. Das reichte der südafrikanischen Regierung während der Apartheid, um dem burischen Dichter die Ehe mit ihr zu verbieten. So weit, so haarsträubend. Breytenbach aber gab nicht auf. Im Exil gründet er die Widerstandsorganisation Okhela, und findet Worte wie diese: „gib mir einen Stift / denn ich will singen / dass das Leben nicht vergeblich ist“.

Am Samstag kommt Breytenbach nach Berlin und eröffnet die Reihe „Home-Exit/Home“, für die das poesiefestival berlin zehn Autoren eingeladen hat. Die Dichter, welche an fünf Abenden in der Akademie der Künste aus ihren Texten lesen werden, wurden mit Bedacht ausgewählt. Denn Wörter wie Heimat, Exil, Rückkehr, Fremde oder Abschied bedeuten für sie mehr als nur abstrakte Klangkombinationen. Die in Weißrussland aufgewachsene Valshyna Mort zum Beispiel lebt heute in Washington, D.C. Hier hat sie den jamaikanischen Autor Ishion Hutchinson kennengelernt, das Paar wird auf dem poesiefestival gemeinsam auftreten.

Welterfahrene Biografien, spannende Ichs – seien sie lyrisch, persönlich oder historisch. Doch nicht immer geht es um simple geografische Räume, in denen sich die Helden bewegen. Auch weil wahre Dichter ohnehin immer in der „inneren Emigration“ leben – das hat die serbische Autorin Radmila Lazic einmal gesagt. Worte wie die von Valshyna Mort spielen mit der Doppeldeutigkeit von Raum: „Und immer wieder finde ich den Eingang / in die Ausweglosigkeit.“ Eine ganz eigene Bedeutung hat das Thema Heimat – und vor allem der Ausweg daraus – für Luljeta Lleshanaku: Während des kommunistischen Hoxha-Regimes in Albanien stand ihre Familie unter Hausarrest. Als Tochter politischer Oppositioneller durfte Lleshanaku weder studieren noch ihre Gedichte veröffentlichen.

Vor lauter Schicksal befürchtet man ein bisschen, dass die Texte zu kurz kommen könnten. Aber wer Ilya Kaminskys „Elegie“ für den von Stalin verfolgten jüdischen Dichter Ossip Mandelstam liest, bekommt den Eindruck, dass die Bewegung im eigenen Lebenslauf notwendig ist, um auch fremde Schicksale besser zu verstehen: „Ich habe geliebt, ja. Mir die Hände gewaschen. Der Erde / von der Loyalität erzählt. Jetzt tot, / zählt ein Liebhaber meine Finger. / Ich fliehe und werde gefangen, fliehe wieder / und werde gefangen, fliehe / und werde gefangen: in diesem Lied / ist der Sänger eine Lehmfigur / Dichtung ist das Selbst – ich widerstehe / dem Selbst.“ Der Familie Kaminskys gelang es, noch vor Öffnung des Eisernen Vorhangs aus der Ukraine in die USA zu emigrieren.

Welterfahrene Biografien, spannende Ichs – seien sie lyrisch, persönlich oder historisch

Alternative Geografie

Keine Frage, die „Home-Exit/ Home“-Angelegenheit ist akut und oft traumatisch. Wenn jemand die richtigen Formulierungen dafür kennt, dann vermutlich die zum poesiefestival geladenen Dichter. Ihnen geht es darum, Worte jenseits von eingebrannten genealogischen Denkmustern zu finden. Von der ägyptischen Autorin Iman Mersal, die inzwischen in Kanada lebt, stammen immerhin Gedichtbände mit Titeln wie „Alternative Geographie“ (2006) oder „Bis ich die Idee von Heimat aufgebe“ (2013). Darin spiegeln sich Utopien einer postrassistischen, im besten Falle postidentitären Welt. Einer Welt ohne Zuschreibungen, in der Menschen das Leben führen können, für das sie sich entschieden haben. Einer Welt, in der sie (sich selbst) schreiben können.

Das erinnert an das „gib mir einen Stift“ von Breytenbach. Nur: in welcher Sprache schreibt ein Dichter, der zweisprachig aufwächst und den größten Teil seines Lebens in einer dritten Sprache verbringt? Bei Breytenbach lautet die Antwort: in allen dreien. Die frühen Gedichte des Autors sind auf Afrikaans, inzwischen schreibt er auch auf Englisch und Französisch. So kann auch Sprache zu einer Heimat werden. Und neue Orte können irgendwann Vertrauen wecken, oft sogar mehr als das sogenannte Vaterland. Als Breytenbach sich 1975 nämlich über die Gesetze Südafrikas hinwegsetzt und mit gefälschtem Pass in sein Land einreist, verrät ihn jemand. Sieben Jahre musste der Dichter im Gefängnis verbringen, danach zog er zurück nach Frankreich und nahm die französische Staatsbürgerschaft an. Seitdem reist er zwischen Kapstadt, New York und Paris hin und her. Und eben nach Berlin.