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Archiv-Artikel

Wie viel Turbo wollen wir?

ABITUR Der Norden streitet über die Schulzeit an Gymnasien. In Hamburg und Schleswig-Holstein trommeln Eltern für eine Volksinitiative. In Niedersachsen bittet die Ministerin zum Dialog

VON TERESA HAVLICEK, KAIJA KUTTER UND ESTHER GEISSLINGER

Es ist schon seit Jahren Alltag, und doch wird derzeit kein schulpolitisches Thema so heißt diskutiert wie das Turbo-Abitur. In Hamburg zittert der SPD-Senat vor einer Eltern-Volksinitiative „G 9-Jetzt-HH“, die die Schulzeitverkürzung an Gymnasien zurückdrehen will. Hat sie Erfolg, wird es ausgerechnet zur nächsten Wahl eine Volksabstimmung geben. Auch in Schleswig-Holstein sammeln Eltern Unterschriften für das „Y-Modell“, so heißt eine Schule, die beides anbietet, den achtjährigen (G 8) und den neunjährigen Weg zum Abitur (G 9).

Doch in beiden Ländern scheint die Politik auf Durchzug zu schalten. Die Forderung nach mehr Lernzeit für Gymnasiumskinder, so der Vorwurf, schade dem Konzept des Zwei-Säulen-Modells. Denn an den Gemeinschaftsschulen beziehungsweise Stadtteilschulen, die anders als Gymnasien für alle Kinder offen sind, wird der neunjährige Weg zum Abitur weiter angeboten. So ist auch Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Waltraut Wende (parteilos) grundsätzlich für eine klare Trennung: G 8 am Gymnasium, G 9 in den Gemeinschaftsschulen. Dass damit eine Stärkung der Gemeinschaftsschulen einhergeht, ist gewollt. Nachdem die „Elterninitiative G9-jetzt!“ eine Volksinitiative gegen das Turbo-Abi gestartet hat, ruderte die Ministerin allerdings etwas zurück: Sie hat zugesagt, dass es für die „Y-Gymnasien“, an denen G 8 und G 9 gleichzeitig angeboten werden, Bestandsschutz gibt.

Ähnlich verlaufen die Fronten in Hamburg. Dort warnte SPD-Schulsenator Ties Rabe, der „Schulfrieden“ sei in Gefahr, nachdem die Mutter und Journalistin Mareile Kirsch am 15. Mai die Volksinitiative „G9-Jetzt-HH“ startete. 6.000 Unterschriften für eine Petition hatte sie da schon zusammen. Die für die erste Hürde im Volksgesetzgebungsverfahren nötigen 10.000 Unterschriften gelten als sicher. Die Initiative wird ernst genommen, weil es sich um Kreise handelt, die bereits 2010 die Primarschule stoppten. Wer jetzt G 9 wolle, riskiere „den Zusammenbruch einer endlich gefundenen verlässlichen Schulstruktur“, warnte die Vereinigung der Gymnasialschulleiter, nachdem die Grünen-Politikerin Stefanie von Berg laut darüber nachgedacht hatte, ein G 9-Gymnasium pro Bezirk zu erlauben. „Ich habe das Gefühl, ich bin im Krieg“, sagt Mareile Kirsch.

Am breitesten ist der Turbo-Abi-Widerstand in Niedersachsen, wo die abgewählte CDU-Regierung den Fehler beging, auch den Gesamtschulen das G 8 aufzuzwingen. Im Wahlkampf hatten SPD und Grüne einmütig versprochen, dies zu stoppen, gleich nach Regierungsantritt legten sie eine entsprechende Gesetzesinitiative vor. Bei den Gymnasien dagegen lässt man sich mehr Zeit: Für diesen Montag lädt Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SPD) Eltern, Lehrer und Schüler zu einem Dialog über die Zukunft der Gymnasien ein. Dann soll diskutiert werden, ob sie zum G 9 zurückkehren – oder ob es beim G 8 bleibt.

Heiligenstadt wolle den Weg zum Abitur am Gymnasium „stressfreier“ gestalten, sagt eine Sprecherin. Ob dieser Weg nun zwölf oder 13 Jahre dauern soll, sei „nicht festgelegt“. Noch im Wahlkampf hatte Heiligenstadt sich für G 9 an Gesamtschulen und G 8 am Gymnasium ausgesprochen, so wie es die SPD-regierten Nachbarländer praktizieren. Die Grünen dagegen hatten stets gefordert, den Gymnasien selbst die Wahl zwischen G 8 und G 9 zu überlassen. Eine Prognose nennt das Kultusministerium nicht. Aber es gilt als denkbar, dass das Turbo-Abi fällt.

In Niedersachsen fordert inzwischen sogar der eher konservative Philologenverband das G 9 zurück – und ist sich darin einig mit der Lehrergewerkschaft GEW. „Wir können nicht sagen, G 9 ist besser, deswegen kriegen es nur die Gesamtschulen und die Gymnasien müssen leiden“, sagt GEW-Landeschef Eberhard Brandt. Der Landeselternrat sagt, man sei „offen“. Auch der Schulleiterverband legt sich nicht fest, mahnt aber einen „einheitlichen Weg zum Abitur am Gymnasium“ an. Dass der wieder nach G 9 erfolgt, hält die Vorsitzende Brigitte Naber für „vorstellbar“.

Allerdings, so Naber, hätten sich viele Schulen auf das G 8 eingestellt, ihnen würden geänderte Lehrpläne reichen. Der Landesschülerrat spricht sich für G 8 an Gymnasien und G 9 an Gesamtschulen aus.

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