Eine Wohninsel mitten im Leben

VON MIRIAM BUNJES

Doris Fiehberg will sich noch nicht alt fühlen. Sie lehnt den dunkelbraunen Gehstock behutsam an den weißen Tisch des Gemeinschaftsraums und macht die Beine lang. Die Hüfte tut weh beim Laufen und auch das rechte Knie macht gerade wieder Probleme. „Von so etwas lasse ich mein Leben nicht bestimmen“, sagt die 66-Jährige und stützt das Kinn auf die schlanken Hände. „Schließlich hab‘ ich gerade erst einen neuen Lebensabschnitt angefangen.“

Und im neuen Leben wohnt sie barrierefrei. Überall gibt es Aufzüge und Rampen, vor der Wohnung ein Garten, dahinter ein öffentlicher Park. Neben ihr leben Nachbarn, die sie kennt und mag und die ihr auch mal helfen, wenn die Hüfte wieder Ärger macht. Dieses Wohngefühl hat die ehemalige Buchhalterin sechs Jahre lang geplant, zusammen mit den 27 anderen erwachsenen Bewohnern des Dortmunder Wohnprojekts „WohnreWIR Tremonia“. Heute bleiben Doris Fiehbergs himmelblaue Augen zufrieden am Klavier hängen, das am Ende des mehr als hundert Quadratmeter großen Gemeinschaftsraums steht. „Inzwischen wird auch gefeiert und nicht mehr nur geplant“, sagt die Rentnerin. Sie verbringt viel Zeit im weiß gestrichenem Saal, der neben dem Klavier und einigen Sofas auch eine große Küche beherbergt. Hier treffen sich die Arbeitsgruppen der Bewohner, sprechen über den gemeinsamen Garten, gemeinsame Anschaffungen und eben auch über gemeinsame Feste.

Allein wollte Doris Fiehberg ihren Ruhestand nie erleben. „Ich konnte mir aber auch nicht vorstellen, nur mit anderen alten Menschen zusammenzuleben“, sagt sie. „Das ist ja kein reales Leben mehr. Da fühlt man sich selber ganz alt.“ Auf dem ehemaligen Gelände der Dortmunder Zeche Tremonia muss sie das nicht. In den 21 Wohnungen leben seit eineinhalb Jahren 28 Erwachsene und 11 Kinder, die jüngste ist acht, der älteste 75. Auf die Alterszusammensetzung wurde bei der Wohnungsvergabe geachtet. Ein Drittel der Nachbarn ist über 55, ein Drittel sind Familien mit Kindern, der Rest wurde altersunabhängig vergeben.

Immer mehr ältere Menschen in NRW denken inzwischen wie Doris Fiehberg. „Einsam alt werden und dann irgendwann nur auf den Zivildienstleistenden zu warten, der das Essen bringt, ist für die meisten ein Alptraum“, sagt Johanna Schnedler vom Forum für gemeinschaftliches Wohnen im Alter e.V. „Und auch der Massenbetrieb Altersheim ist eher abschreckend.“ Stattdessen ziehen die SeniorInnen zusammen, in Wohngemeinschaften, Hausgemeinschaften, Wohnungsprojekte mit Gemeinschaftsräumen. „Einige wollen mit Jüngeren wohnen, andere ausschließlich mit ihrer Generation“, sagt Schnedler. „Sie wollen auf jeden Fall Gemeinschaft. Dass man sich unterstützt bei Alltags- und auch Altersproblemen und dabei aber sein Leben selbstbestimmt gestaltet.“

65 Generationen übergreifende Wohnprojekte gibt es inzwischen in NRW. Die Zahl der gemeinschaftlichen Altenwohnungen liegt mittlerweile bei mehr als 300, so die Schätzung der nordrhein-westfälischen Regionalstelle von Schnedlers Verein, die Interessierte bei der Umsetzung solcher Wohnprojekte berät – Tendenz steigend. „Es gibt eben immer mehr alte Menschen in Deutschland, und die beginnen jetzt, ihr Alter nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten“, sagt Johanna Schnedler.

Zehra Eid „gestaltet“ vor allem Zwiebeln genau nach Frieda Sonnbergs Vorstellungen: bloß keine Ringe, nur ganz klein gehackte Würfel. „Sonst schmeckt ihr das ganze Essen nicht“, sagt die 27-jährige Philosophiestudentin und wischt sich eine Träne aus dem Auge. Frieda Sonnberg sticht ihr mit dem Zeigefinger in die Taille: „Arme versklavte Studentin“, sagt sie und lacht.

Zehra kocht seit fünf Jahren für Frieda Sonnberg. Seit vier Wochen macht sie auch ihre Wäsche und ihre Einkäufe. Dafür wohnt die Studentin im grünen Essener Süden in einem 40 Quadratmeter großen Zimmer mit Balkon und Blick auf fast 200 Quadratmeter Garten, den sie mitbenutzen kann. Miete zahlt sie keine.

„Ohne Zehra könnte ich nicht mehr hier wohnen“, sagt Frieda Sonnberg. Sie wird in ein paar Tagen 81, fühlt sich zwar topfit, sieht aber immer schlechter. Kennengelernt hat sie ihre unentbehrliche Mitbewohnerin über eine Stellenanzeige. Die Rentnerin suchte eine Haushaltshilfe, die Studentin brauchte einen Job. „Wir essen seit fünf Jahren zusammen Mittag“, sagt Zehra Eid. „Inzwischen kennen wir eine Menge mehr voneinander als Zwiebelmarotten.“

Als Zehra Eid eine neue Wohnung suchte, dachte auch Frieda Sonnberg über einen Umzug nach. „Irgendwann, als wir beide völlig entnervt von Besichtigungsterminen, hohen Mieten und komischen Nachbarn beim Mittagessen saßen, fiel uns ein, dass wir ja eigentlich auch zusammenwohnen könnten“, erzählt Zehra Eid. „Ich glaube, es gab Zwiebelsuppe“, erinnert sich Frieda Sonnberg. „Gut zerhackt“, sagt Zehra Eid. Sie ist mehr als zufrieden mit dem Deal. „Kochen würde ich für mich selber ja auch, ebenso wie Wäsche waschen oder einkaufen“, sagt die angehende Lehrerin. Sie will auch während ihres Referendariats bei Frieda Sonnberg wohnen. „Und dann mal sehen“.

Auf diese Wohnidee sind inzwischen auch andere Universitätsstädte in NRW gekommen. In Köln, Paderborn und Münster organisieren Stadtverwaltungen und Studentenwerke modellhafte Wohngemeinschaften. Schon jetzt übersteigt die Nachfrage das Angebot. „Viele wohnen schon seit Jahren so“, sagt Michael Kramps, Leiter des städtischen Seniorenbüros Paderborn. „Jetzt bieten wir interessierten Studierenden und Senioren ein Forum für diese Wohnidee. Offenbar inspiriert das viele.“

Ideen aller Art werden im Dortmunder „WohnreWIR“ immer im Plenum diskutiert. „Was haben wir über die Bastmatten im Gemeinschaftsraum diskutiert“, sagt Doris Fiehberg. „Und jetzt sind es ganz normale graue Quadrate geworden.“ Aber ohne „unsere sehr ausgeprägte Diskussionskultur“, betont Birgit Pohlmann-Rohr (48) immer wieder, sehe das Wohnprojekt heute ganz anders aus. „Vielleicht gäbe es uns auch überhaupt nicht“, sagt die Dortmunder Stadtplanerin, die inzwischen selbst mit ihrem Sohn in eine der Wohnungen eingezogen ist.

Diskutiert wurde alles: Baut man ökologisch, wie macht man das am besten, wie groß werden die Wohnungen, wie groß die gemeinsame Wohnfläche. Herausgekommen sind ein Blockheizkraftwerk, Regenwassernutzung, eine Fotovoltaikanlage und so genannte Drei-Liter-Häuser mit besonders hoher Wärmespeicherkapazität. Die Wohnungsgröße konnte jede/r selbst beim Architekten bestellen. Die kleinste Wohnung ist 55 Quadratmeter groß, die größte 165. Alle gehören den Bewohnern, der Verein WohnreWIR hat schon mehrere Preise für ihr Projekt erhalten.

Nebenan entsteht zur Zeit ein zweites WohnreWIR. „Es ist halt auch attraktiv, gleichzeitig in der Innenstadt zu wohnen und dabei trotzdem eine Art eigene Dorfgemeinschaft zu haben.“ Die Stadt Dortmund hat das alte Gelände der Zeche Tremonia vollständig in Bauland umgewandelt. Deshalb wird jetzt überall gebaut. Das Projekt hat eine kleine Mauer vor die U-förmig angeordneten Wohnhäuser gestellt, die den Gemeinschaftsgarten mit Spielplatz umschließt. „Wir betrachten uns schon als eine abgeschlossene Wohninsel“, sagt Doris Fiehberg. „Aber eine, die mitten in dieser Gesellschaft steht.“

Eine Übersicht über Wohnprojekte und Beratung für Neugründungen bieten das Regionalbüro Rheinland, Neues Wohnen im Alter e.V., unter Tel. 0221/215086 und das Regionalbüro Westfalen, Wohnbundberatung NRW GmbH, unter Tel. 0234/904400