: Meckern über Memmen
EISKUNSTLAUF Evan Lysacek wird ohne Vierfachsprung Olympiasieger. Den Spott, den der Trainer seines Kokurrenten Jewgeni Pluschenko über ihn ausgießt, wird er verschmerzen
ALEXEJ MISCHIN TRAINER VON JEWGENI PLUSCHENKO
AUS VANCOUVER MARKUS VÖLKER
Alexej Mischin ist ein Mann klarer Worte. Der altgediente Trainer von Jewgeni Pluschenko sagte frei von der Leber weg: „Ich respektiere die Leistung von Evan Lysacek, aber ich bin der Meinung, das System sollte schleunigst geändert werden, und zwar so, dass schwierige Sprünge höher bewertet werden.“ Es ging natürlich um die Vierfachsprünge, die „Quads“, wie man in Nordamerika dazu sagt. Pluschenko hatte in der Nacht zu Freitag einen vierfachen Toeloop gezeigt – und war nur Zweiter geworden im Pacific Coliseum vor 11.600 Zuschauern.
Der neue Olympiasieger, der US-Amerikaner Lysacek, hatte keinen einzigen Vierfachsprung in seinem Kürprogramm – und war von den Preisrichtern doch auf Platz eins gehievt worden. Er lag am Ende mit 1,31 Punkten vor dem Russen. Nach dem Kurzprogramm hatte Lysacek noch hinter dem Olympiasieger von 2006 zurückgelegen. Mit einer sauberen, aber technisch eher durchschnittlichen Kür zog er vorbei. Ein Skandal? Wenn man Mischin so zuhörte, dann konnte man annehmen, dass er Betrug und Mauschelei witterte.
„Das Eiskunstlaufen hat sich nicht zu seinem Besten entwickelt, nein, es hat sich zurückentwickelt. Heute gewinnst du mit Tricks, mit denen man schon vor zwanzig Jahren gewonnen hat.“ Einmal in Fahrt, empfahl er, nach diesem olympischen Triumph des Showtypen über den Sprungkräftigen künftig einen „Unisexwettkampf“ zu veranstalten, „bei dem dann vielleicht ein japanisches Mädchen gewinnt“. Das sollte wohl heißen: Eiskunstlaufen in der jetzigen Form ist nur etwas für Memmen und Weicheier, für Läufer, die nicht bis zum Äußersten gehen und nur ihre Schnörkelchen und Pirouetten drehen.
Mit einer Verrenkung versuchte er die komischen Drehungen der Konkurrenten zu verballhornen. Alexej Mischin hatte nach seiner künstlerischen Darbietung im Pressebereich des Coliseum dann doch noch anderes zu tun, als ständig über den Wettbewerb herzuziehen. Er musste die Frau von Jewgeni Pluschenko, Jana Rudkowskaja, eine erfolgreiche Musikproduzentin, trösten. Tränen kullerten ihr übers Gesicht. Ganz rot geweint waren ihre Augen. Sie hatte mit ihrem Gatten Gold gewinnen wollen. Ihr Mann wäre dann der zweite Doppelolympiasieger im Eiskunstlauf in der Geschichte gewesen. Bisher hat das nur Richard Button (USA) geschafft, 1948 und 1952.
„Mit dem alten Bewertungssystem hätte ich gewonnen“, sagte Pluschenko nach dem für ihn so enttäuschenden Wettkampf. Zur Erinnerung: Bis 2004 wurden eine A- und eine B-Note vergeben. Die Bestnote lag bei 6,0 Punkten. Im Zuge des Skategate-Skandals der Olympischen Winterspiele von Salt Lake City wurde das neue System eingeführt, der Code of Points. Nach Pluschenkos Meinung hat das zu einer Begünstigung der künstlerisch begabteren, der „weicheren“ Läufer geführt. Gebetsmühlenartig wiederholt Pluschenko, 27, seine Forderung, dass es mehr Vierfachspringer auf dem Eis geben sollte. „Es sollte immer vorwärtsgehen, niemals zurück“, sagte er in Vancouver.
Evan Lysacek, der keiner Schule so richtig zuzuordnen ist, meinte, er habe eine „Winning Performance“ gezeigt und deswegen die Goldmedaille verdient: „Ich wollte vom Beginn meines Programms bis zum Ende stark sein, nicht nur in einem Teil“, sagte er. Der 24-Jährige hatte zur „Scheherazade“ von Rimski-Korsakow getanzt. Er habe sich gar nicht erst auf einen Vierfachsprung konzentrieren wollen, gab der neue Olympiasieger zu, „ich hatte vielleicht nicht das Zutrauen“. Er verriet freilich nicht, dass er das Risiko eines Quads auch deswegen scheut, weil sein Fuß nach einer alten Stressfraktur nicht überlastet werden darf. Sein Trainer Frank Carroll hatte ihm geraten, auf Nummer sicher zu gehen, wie er ihm auch empfohlen hat, sich aus dem Richtungsstreit der Athleten herauszuhalten. „Ich habe ihm gesagt, er soll sich nicht drum scheren, was der Patrick Chan und Brian Joubert treiben.“
Der Franzose Joubert, der in Vancouver zwei miserable Vorstellungen zeigte, hatte in den vergangenen Wochen mehrfach erklärt, es sei eine Schande, dass man ohne Vierfachsprünge Weltmeister werden könne. Der Olympiazweite, Elvis Stojko, stimmte in den Chor mit ein. Gestern lästerte der Kanadier in der Zeitung Globe and Mail über Läufer, die sich zu sehr aufs Künstlerische verlegen. „Ich gucke mir an, was die treiben, hol mir einen Kaffee, und wenn ich zurückkomme, zeigen die immer noch ihre elende Beinarbeit.“ Die Vertreter der anderen Seite sind wiederum der Meinung, Pluschenko laufe nur von Sprung zu Sprung, was dazwischen passiere, kümmere ihn nicht groß.
Der Kanadier Patrick Chan wollte erkannt haben, dass Pluschenkos Stil von gestern sei. Preisrichter diskutieren untereinander aufgeregt, ob das Eiskunstlaufen nun in „Eiskunstspringen“ umzutaufen sei. Allerlei Frontverläufe haben sich also gebildet: zwischen Russland und Amerika, zwischen Läufern mit femininer Ausstrahlung und den Viefachsprung-Fans, zwischen Sprungfetischisten vom Schlage Pluschenko und Lady-Gaga-Freunden wie Johnny Weir, dessen androgyne Exzentrik das Publikum stets zu Begeisterungsstürmen hinreißt. Auch in Vancouver war der US-Amerikaner, der nach dem Wettkampf mit einem Rosenkranz auf dem Kopf durch die Halle stakste, der umjubelte Läufer. Sein sechster Platz wurde mit Buhrufen quittiert.
Auf wessen Seite sich der Drittplatziere, Daisuke Takahashi, in diesem Richtungsstreit schlägt, das verriet schon sein erster Sprung in der Kür. Es war ein Vierfach-Toeloop. Er vermasselte ihn zwar, aber das mache nichts, sagte der Japaner hinterher, „Vierfachsprünge fordern mich heraus, sie gehören dazu.“ Der Satz hätte auch von Alexej Mischin stammen können.