: Jugend forscht als Webcam
In Lichtenberg hat das Theater an der Parkaue mit Hilfe von Künstlern und Autoren eine „Winterakademie“ für Jugendliche eingerichtet. Als Labor für Flaneure widmet sich das situationistische Programm dem Alltag im Bezirk
Das Erste, was man lernen muss, wenn man etwas über eine Stadt erzählen will, ist das genaue Beobachten, sagt Annett Gröschner. Die Autorin und Journalistin leitet Labor 7, das den Titel „Watch Berlin“ trägt. Gröschners Gruppe gehört zur „Winterakademie“, die seit Montag vom Theater an der Parkaue veranstaltet wird. Das Projekt richtet sich an besonders junge Großstadtexperten: Eine Woche lang können hier mehr als siebzig Kinder und Jugendliche zu urbanen Flaneuren und Sammlern innerhalb des Bezirks werden, die den üblichen Blick auf Lichtenberg einmal ganz anders justieren. Die „Winterakademie“ ist in insgesamt neun Laboren organisiert, die von verschiedenen Künstlern und Autoren geleitet werden. Am Samstag wird im Theater dann präsentiert, was die acht- bis achtzehnjährigen Teilnehmer entdeckt haben.
Dabei geht es nicht allein darum, die Stadt neu kennen zu lernen. Jedes Labor versucht auch Methoden zu entwickeln, mit denen sich das Gesehene und Gefundene künstlerisch umsetzen lässt. So sollen sich die Teilnehmer mit Gröschners Hilfe in eine Kamera verwandeln, die eine Sequenz der Stadt aufzeichnet, ohne zu wissen, was vorher passiert ist oder was nachher kommt. „Webcam“ nennt Gröschner dieses literarische Verfahren, bei dem der Autor nur beobachtet, notiert und keine Deutung des Geschehens mitliefert.
Die Bahnsteige vom Bahnhof Lichtenberg sind selbst am frühen Nachmittag düster und fast menschenleer. In der Bahnhofshalle stehen ältere Männer in kleinen Grüppchen zusammen und trinken Bier aus großen Dosen. Die siebzehnjährige Lina wirft einen entnervten Blick in ihr leeres Notizbuch. Hier passiert ja nichts, was einem da wohl einfallen soll. Dass es aber bei einer Webcam gerade nicht um die großen Ereignisse geht, macht Guido vor: Er hat sich zwischen die Wartenden in der Halle gemischt und notiert die Versuche eines Reisenden, von einem der Umstehenden eine Wegbeschreibung zu bekommen.
Sophia und Roxanne geben derweil ihren Beobachtungsposten bei McDonald's auf, das hat nicht funktioniert. Wenn man sich dort statt Burger und Pommes kauend mit Notizbuch und Bleistift niederlässt und den Nebentisch beobachtet, dann verstummen die Gespräche schneller als man gucken kann. Nicht nur, weil Lichtenberg eine ehemalige Stasi-Hochburg war. Die angehenden Webcam-Experten ahnen: Man muss eine ganze Menge trainieren, um ein guter Beobachter zu werden.
In der Bahnhofsbäckerei gesellt sich Sascha Bunge zu Annett Gröschner. Der Oberspielleiter und stellvertretende Intendant vom Theater an der Parkaue ist so begeistert von der Akademie, dass er sich als Assistent von Labor 7 verdingt hat, der gern auch mal für Nachschub an Notizbüchern sorgt oder die Bleistifte anspitzt. Zudem schwärmt er auch von den anderen Laboratorien. Mit der Bühnenbildnerin Steffi Wurster zum Beispiel suchen die Teilnehmer an den höchsten und tiefsten Punkten Lichtenbergs nach Materialien und Geschichten, die zu einer großen Installation in den Räumen der Parkaue aufbereitet werden sollen. Und auch die Choreografin Lara Kugelmann betreibt mit ihrer Gruppe Stadtforschung von einer eher ungewöhnlichen Perspektive aus: In Labor 6 soll der erste Lichtenberger Kieztanz entwickelt werden.
Glücklich ist man am Theater an der Parkaue – wie sich das ehemalige carrousel Theater seit August letzten Jahres nennt – vor allem über die gelungene Integrationsleistung des Projekts, das in diesem Jahr zum ersten Mal stattfindet. Kinder und Jugendliche aus verschiedenen Nationen habe man am Montag auf der feierlichen Eröffnung in die „Winterakademie“ aufgenommen. Und dank eines vom Bezirksamt gesponserten Sozialtickets können auch Kinder aus sozial schwachen Familien teilnehmen.
Die sechs menschlichen Webcams aus Labor 7 haben mittlerweile rote Nasen und beenden für heute ihre Feldforschung auf dem Lichtenberger Bahnhof. Im Konferenzzimmer des Theaters werden vor einer Karte vom Bezirk Lichtenberg die Routen für den nächsten Tag besprochen. Die Expeditionsziele für morgen werden ausgelost. Nicht gezogen wird das Los mit der Heiner-Müller-Gedenkstätte.
Vor dem Fenster stapfen ein paar Kinder durch den Schnee. Jedes von ihnen balanciert über dem Kopf einen riesigen Buchstaben aus Styropor. Die Gruppe verschwindet in Richtung Frankfurter Allee. Das muss Labor 3 gewesen sein, die das ultimative Einkaufscenter entwerfen sollen. Wenn es fertig ist, wird vielleicht Labor 7 vor Ort sein und eifrig Webcams schreiben.
WIEBKE POROMBKA
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