: Sie nannten es Geheimbund
SEXUELLE GEWALT Wegen Missbrauch an Schutzbefohlenen ist in Saarbrücken ein Gruppenführer von Pfadfindern verurteilt worden. Einblicke in eine Jugendbewegung, in der Übergriffe von Päderasten auf Pubertierende zur Alltagskultur gehörten
■ Bist auch du ein Bündischer? Ist dir auf Fahrten oder Feiern passiert, dass Gruppenleiter übergriffig geworden sind, dich berührt oder begrapscht haben? Und sagen, dass du darüber nicht sprechen sollst? Benötigt ihr als Bund Hilfe? Dann bieten wir dir an, dich beim Arbeitskreis „Schatten der Jugendbewegung“ zu melden. Ob persönlich oder anonym, wir schützen dich und helfen dir. http://tiny.cc/AKSchatten
VON SVEN REISS
Wenn man an Pfadfinder denkt, dann fallen einem neben dem Klischee der täglichen guten Tat vor allem Abenteuer in Zeltlagern, Gemeinschaftserleben und Naturverbundenheit ein. In Deutschland gesellt sich zu dieser weltweiten Bruderschaft noch die Tradition der Jugendbewegung des Wandervogels hinzu: Jugendliche, die vor über hundert Jahren „aus grauer Städte Mauern“ ausbrachen und sich eigene Freiräume abseits der Erwachsenenkultur schufen. Etwa 100 solcher Gruppen gibt es heute noch, sie verstehen sich als „Bündische Jugend“, ihre Strukturen sind für den Außenstehenden nur schwer zu überblicken. Für viele wurden die dortigen Jugenderlebnisse positiv prägend für das ganze Leben. Das einfache Leben auf Fahrt, das Lernen von Selbstständigkeit und Verantwortung sind zeitlose Ideale der Bünde.
Doch die Erfolgsgeschichte hat Schattenseiten. Eine davon wurde nun vor dem Landesgericht in Saarbrücken verhandelt. Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen in 11 Fällen lautete die Anklage gegen den 37-jährigen Markus M. Der bis Ende vergangenen Jahres als Erzieher Tätige soll seine Führungsrolle bei den Pfadfindern und Wandervögeln für eigene sexuelle Befriedigungen ausgenutzt haben. Gleich zu Beginn der Verhandlungen räumt der Angeklagte ein, dass die Fälle so gewesen sein könnten, er wolle sie auf jeden Fall nicht in Abrede stellen. Allerdings sei er davon ausgegangen, dass sich die sexuellen Kontakte zu den Pubertierenden im Rahmen eines großen Freundeskreises völlig freiwillig ereignet hätten. Vier betroffene Personen zeigten den Mut zu belastenden Aussagen. Da diese zur Tatzeit zwischen 14 und 17 Jahre alt waren, ging es in der Folge der Verhandlung besonders um die Frage, ob ein Abhängigkeitsverhältnis zu Schutzbefohlenen vorgelegen habe. Das Gericht verurteilte am Dienstagnachmittag den Beklagten zu zwei Jahren und sechs Monaten.
Durch persönliches Charisma und aufopfernden Einsatz für die Gruppe erlangen jugendbewegte Gruppenführer oftmals trotz gelebter flacher Hierarchien eine besondere Machtposition. So auch in diesem Fall. Das Perfide: Täter, welche einen solchen Rang innerhalb der Gruppenstruktur erlangen, bleiben auch für die Betroffenen ambivalente Personen zwischen eigennütziger sexueller Triebbefriedigung und Fürsorglichkeit. Für manche werden sie zum Vaterersatz.
Der 1921 wegen sexuellem Missbrauch rechtskräftig verurteilte Reformpädagoge Gustav Wyneken verteidigte sich vor Gericht, indem er sein Handeln als pädagogischen Eros verklärte. Er berief sich direkt auf das Vorbild griechischer Päderastie. Verquaste Vorstellungen, und doch wurden sie innerhalb der Pädagogik und der Jugendbewegung immer wieder als Legitimation für Übergriffe an Pubertierenden rezipiert. Ein anderer Ideologe, der Philosoph und Wandervogel Hans Blüher, beschrieb vor einhundert Jahren die Wandervogelbewegung als ein männerbündisches, erotisches Phänomen: päderastische „Heerführer der Jugend“ seien demnach die eigentlichen „Wirbelpunkte“ der Bewegung. Seither mangelte es nicht an bagatellisierenden Erklärungen, die unter den Begriffen einer „starken Freundesliebe“ oder jener „Kraft des Eros“ rein geistige Beziehungen verstanden wissen wollten. Mag dies in einigen Fällen tatsächlich so gewesen sein, zeigt das jetzige Gerichtsverfahren ein deutlich anderes Bild.
Tatort Jugendburg
Viele der Aussagen zu den einzelnen Fällen klingen wie aus einem Sachbuch über pädosexuelle Täterstrategien. Der Angeklagte erwarb Vertrauen und Zuneigung und führte die Jugendlichen in eine psychische Abhängigkeit. Einer der Betroffenen äußerte sich im Gespräch, es wäre vor allem die unglaubliche Macht gewesen, die der Beschuldigte aufgrund intimer Kenntnisse über ihn erlangt hätte, die so schmerzen würden. Zudem habe er dem Angeklagten versprechen müssen, nie etwas zu sagen, da dieser sonst ins Gefängnis kommen würde.
Ein anderer Betroffener sagte aus, wie es erst zu Annäherungen über Körperkontakt gekommen sei, bevor der Beschuldigte als Nächstes die Genitalien berührte und dann versuchte, den Betroffenen oral zu penetrieren. Der Beschuldigte wehrte ab, es kam zu einem weiteren Versuch, der ebenfalls abgewehrt wurde, woraufhin der Angeklagte von dem Betroffenen abließ. Von anderen wich der Beschuldigte nicht ab, missbrauchte das Macht-, Wissens- und Erfahrungsgefälle gegenüber den Jugendlichen. Vielfach war Alkohol mit im Spiel. Es kam zum Vorschein, dass der Beschuldigte wohl nicht der Einzige in diesem Kreis war, der sexuelle Präferenzen zu pubertierenden Jungen hat. „Diese Männer haben die Rolle des Erziehers total ausgenutzt“, sagte ein Zeugin, die selbst Stammesführerin war. „Die waren schlau, die haben die Jungs manipuliert, um sie missbrauchen zu können.“
Wiederholt wurde die Jugendburg Balduinstein als Tatort genannt – eine an der Lahn gelegene, romantische Begegnungsstätte von Pfadfindern und anderen bündischen Gruppen. Der frühere Pfadfinderstamm „Landsknechte“ des Angeklagten bezeichnete die Burg auf seiner Homepage als „Heimatburg“. Später wandte sich Markus M. mit einer – laut Aussage eines seiner Jungen als „Geheimbund“ bezeichneten – Gruppe von den Pfadfindern ab. Markus M. und seine Gefolgschaft wurden nach einiger Zeit selbst Wandervögel: Balduinsteiner Wandervögel.
Einer der Betroffenen berichtet vom sexualisierten Klima in diesem Kreis. Er zeigt Fotos aus Griechenland, wo eine der Burg nahestehende Person ein Haus besitzt, das bündischen Gruppen offen steht. Dort habe man 2005 den 61. Geburtstag einer ebenfalls in diesem Kreis sehr aktiven Person gefeiert. Als Überraschung habe der Angeklagte einen besonderen Einfall gehabt. Lediglich mit weißen Laken bedeckt, wurden die Jugendlichen als griechische Jünglingsstatuen im Garten arrangiert. Eines der Bilder zeigt einen der Jungen nur sehr spärlich mit Laken bekleidet – darunter ist er nackt. Dies sei der Lieblingspimpf des Jubilars gewesen. Während dieser die „Kunst“ bewunderte, habe er seinen „Pimpf“ im Beisein der Gruppe erst am Oberschenkel berührt und dann zwischen die Beine gefasst.
Es ist nicht das einzige Mal, dass der Betroffene im Gespräch vom „Griff zwischen die Beine“ berichtet. Noch am selben Abend habe ein weiterer älterer Mann einen anderen der Jungen in den Schritt gegriffen. Dieser Junge habe sich allerdings gewehrt, rannte davon. Er gehörte nicht zu den Wandervögeln, war Heimkind aus einer Einrichtung, die der Geburtstag Feiernde seinerzeit leitete. Der Erzieher wie auch der Rest der noch anwesenden Älteren habe die Sache heruntergespielt, bagatellisiert. Es sind Erlebnisse wie diese, die den Betroffenen dazu gebracht haben, bei der Polizei und vor Gericht Aussagen zu machen: „Mir geht es darum, dass ganz viele Täter aktiv sind, aber viele Leute nur zuschauen oder wegschauen – ich will, dass das endlich aufhört! Im bündischen Leben scheint’s in Ordnung zu sein, wenn Erwachsene Männer 14- oder 15-jährige Jungs lieben. Dies bekomme ich auch jetzt wieder erzählt. Damit muss Schluss sein!“
Durch eine Zeugenaussage erfuhr das Gericht, dass auch der Angeklagte selbst im Alter zwischen 11 und 13 Jahren sexuell von seinem Stammesführer missbraucht worden war.
Bei solchen Einblicken stellt sich die Frage, ob man überhaupt noch Kinder in jugendbewegte Gruppen geben könne. Man kann! Junge Menschen innerhalb der Szene sind sensibilisiert und brechen Tabus. Viele Bünde haben bereits eigene Präventionskonzepte zu diesem Thema und schulen ihre Mitglieder. Der Arbeitskreis „Schatten der Jugendbewegung“ fördert seit 2010 den offenen Austausch, bietet Schulungen an und widmet sich den Fragen möglicher Präventionsarbeit.
Das Schamgefühl achten
Die Erkenntnis: Es bedarf für notwendige Prävention nur an wenigen Stellen der Veränderung der Gruppenkulturen, um ein Klima zu schaffen, welches es potenziellen Tätern schwer macht, bündische Werte für egozentrische sexuelle Triebe zu missbrauchen. Das Wichtigste ist ein offener Umgang mit dem Thema. Hierzu gehört das Überwinden der massiv geschürten Angst, durch konsequentes Aufklären und Handeln der eigenen Gruppe zu schaden – das Gegenteil ist der Fall.
In internen Internetforen wird Eberhard Koebel (tusk) zitiert, einer der charismatischsten Persönlichkeiten der jugendbewegten Geschichte. Er forderte schon 1932 radikal die Abkehr von Ideologien eines Eros und die Trennung von dessen Propagandisten. Stattdessen forderte er die Verteidigung des natürlichen Schamgefühls der Jugendlichen und kam zu dem Fazit: „Ich übernehme die Verantwortung, Jungen aus der häuslichen Einfalt zu reißen, nur, wenn ich Gewähr bieten kann, dass sie sich bei uns besser entwickeln.“
Sven Reiß, 33, ist Volkskundler und selbst Mitglied in einer bündischen Jugendgruppe gewesen. Heute gehört er dem Arbeitskreis „Schatten der Jugendbewegung“ an.