Das Ich hinter den Träumen
Wie die Kunst ein Leben modelliert: Die große Kafka-Biografie von Peter-André Alt
von OLIVER PFOHLMANN
Ende Januar 1922 reist Franz Kafka auf Anraten seines Arztes nach Spindelmühle im Riesengebirge. Sein Zustand ist fürchterlich, die Tuberkulose nähert sich ihrer agonalen Phase. Hinter ihm liegen Monate der selbst verordneten Schreibabstinenz und Depression; im Jahr zuvor ist auch seine Beziehung mit Milena Jesenská gescheitert.
Ein Foto zeigt ihn bei seiner Ankunft: Als suchte er verzweifelt einen Halt, steht er im dichten Schneetreiben schief gegen den großen, voll besetzten Reiseschlitten gelehnt da, ein Fremder unter lauter Einheimischen. Im Gästebuch des Hotels trägt man ihn versehentlich als „Josef Kafka“ ein. Das Tagebuch kommentiert die Fehlleistung ironisch: „Soll ich sie aufklären oder soll ich mich von ihnen aufklären lassen?“. Wenige Tage später brechen sich die aufgestauten Schreibenergien ihre Bahn. Inspiriert vom Erlebnis seiner Ankunft in dem verschneiten Dorf beginnt Kafka seinen letzten Roman, „Das Schloss“.
Biografen lieben solche Zusammenhänge. Nichts erscheint plausibler, als dass der Strom der Literatur dem munter sprudelnden Lebensquell entspringt. Zumal gerade Kafkas Texte von einem dicht gewebten autobiografischen Verweissystem überzogen sind, mit dessen Dechiffrierung Generationen von Kafka-Exegeten beschäftigt waren. Vergessen scheint dagegen die Einsicht Oscar Wildes, dass auch das Gegenteil richtig, dass es oft genug das Leben ist, das auf der Suche nach Form und Ausdruck die Kunst imitiert.
Wie erstaunlich fruchtbar dieser Gedanke im Fall des Prager Schriftstellers ist, zeigt die neue Kafka-Biografie von Peter-André Alt, die Kafkas Vita erstmals nicht als Quelle, sondern als Spiegel seines Schreibens deutet. Beispiele gefällig? Die Erzählung „Das Urteil“, in der Kafka seinen Protagonisten Georg Bendemann dem vermeintlich bettlägerigen Vater von seiner Verlobung mit einer gewissen Frieda Brandenfeld berichten lässt, entstand in der Nacht vom 22. auf den 23. September 1912. Dass sich hinter diesem Fräulein die Berliner Angestellte Felice Bauer verbirgt, die der Schriftsteller wenige Wochen zuvor bei einem Abendessen im Hause Max Brods kennen gelernt hatte, ist bekannt. Den legendären Briefwechsel der beiden hat Kafka jedoch erst am 20. September eröffnet, also nur zwei Tage vor der literarischen Sturzgeburt; Felices erstes Antwortschreiben erhielt er acht Tage später.
In die Rolle der Geliebten, dann Verlobten schlüpfte die reale Felice Bauer somit erst im Laufe der folgenden Monate: „Nicht Frieda ist Felice, sondern Felice repräsentiert Frieda“, folgert Alt daher, „der Archetyp der Verlobten entstammt, ehe er Wirklichkeit gewinnt, dem Depot der Phantasie.“ Literarisch vorgezeichnet waren noch viele andere Begebenheiten in Kafkas Leben, etwa seine Krankheit zum Tode, wie er selbst nur zu gut wusste: „Auch habe ich es selbst vorausgesagt“, schrieb Kafka nach der Entdeckung seiner Schwindsucht im September 1917 an Brod. „Erinnerst du dich an die Blutwunde im ‚Landarzt‘?“
Noch sein Sterben folgt literarischen Mustern: Von der Kehlkopftuberkulose der Stimme beraubt, kaum noch fähig, etwas zu sich zu nehmen, folgt Kafkas stummes Verschwinden dem seiner Helden. Verblüffenderweise ist jedoch, wie Alt einsichtig macht, auch jenes geheime Gesetz, das Kafkas Liebesbeziehungen, nicht nur mit Felice, sondern auch später mit Julie Wohryzek oder Milena Jesenská, zum Scheitern verurteilt, eine genaue Nachahmung jener im resignierten Abbruch endenden Zyklen, die seine literarische Produktion beherrschten. Dabei folgte einem spielerischen, scheinbar absichtslosen Auftakt stets zunächst eine Phase des ekstatischen Gelingens.
Solchen Flow-Zuständen, wie sie Kafka in seinen einsamen nächtlichen Schreibsessions erleben konnte, war freilich so wenig Dauer beschieden wie den Phasen unbeschwerter Intimkommunikation in den Beziehungen. Auf Stockungen oder Unterbrechungen reagierte Kafka, im Schreiben wie im Leben, mit Ausweichmanövern: Der „Prozess“-Roman läuft aus dem Ruder, Kafka schreibt mit leichter Hand „In der Strafkolonie“; das Briefverhältnis mit Felice wird zusehends verkrampfter, Kafka flirtet ungeniert mit Grete Bloch. Weshalb Alt die Beziehung zu Felice als ebenso „unabschließbares Manuskript“ versteht wie Kafkas Romane.
Für den Biografen selbst scheint ein solches Gesetz nicht zu gelten. Dem nach Stationen in Bochum und Würzburg inzwischen an der FU Berlin lehrenden Germanisten ist erneut ein großer Wurf geglückt. Ähnlich wie Alts preisgekrönter Doppelband über Schiller ist auch diese Werkbiografie auf Vollständigkeit angelegt. Sie kompiliert souverän die Ergebnisse jahrzehntelanger Forschung und ersetzt ein ganzes Regal an einschlägiger Sekundärliteratur. Dominierendes Deutungsmittel von Alts luziden Werkinterpretationen sind die Schriften Freuds. Zwar nötigte das analytische Therapieversprechen Kafka selbst wenig mehr als Skepsis ab, trotzdem stehen seine Schrift gewordenen Tagträume der Psychoanalyse so nahe, dass diese jene erhellen kann – und umgekehrt. In der „Schloss“-Verwaltung etwa erkennt der Germanist überzeugend das psychische System, wie Freud es in räumlicher Metaphorik beschrieben hat. Mit den sexbesessenen, scheuen Beamten als unbewussten Traumgedanken, die sich vor dem Ich verstecken.
Wie Reiner Stach erleben zu wollen, „wie es gewesen ist, Franz Kafka zu sein“, käme Alt freilich nicht in den Sinn. Nüchterne Reflexion statt empathische Einfühlung, heißt seine Devise. Kein Wunder daher, dass man den erzählerischen Drive, der Stachs 2002 erschienene Kafka-Biografie zu einem solchen Leseerlebnis machte, schnell vermisst. Zumal Alts ambitionierte Wissenschaftsprosa mehr nach dem akademischen als nach dem breiten Publikum schielt. Wer die mitunter zum Exerzitium geratende Lektüre der knapp 700 Seiten auf sich nimmt, wird jedoch reich belohnt. So paradox es klingt, lebendiger und aufgrund der geschickten thematischen Konzentrierung, mit der Alt sein Material organisiert, auch profilierter ist einem Kafka noch nicht begegnet.
Denn Alts Biografie darf als vorläufiges Schlusswort in jenem einst von Klaus Wagenbach begonnenen Prozess gelten, in dessen Verlauf der von Max Brod in die Welt gesetzte heilige Franz ein immer menschlicheres Antlitz erhielt. So berauschte sich sein nach Fetischen gierendes Auge am Anblick schmutziger Schürzen, hatte er seine sadistische Freude an literarischen Sterbeszenen und schwärmte, man glaubt es kaum, mitunter für Napoleon. Umfassend gibt Alt Auskunft über Kafkas zwiespältige Reaktion auf den Kriegsausbruch, seine lebenslange Auseinandersetzung mit dem Zionismus oder über seine Sympathien für Naturheilkunde und Lebensreform. Sie präsentiert den passionierten Kino- und den (etwas weniger passionierten) Bordellgänger Kafka, den wachen Beobachter moderner Medientechnologie und den für erstaunlich viele Frauen attraktiven Reisenden, den Kritiker zeitgenössischer Erziehungsmethoden und den voyeuristischen Großstadtflaneur.
Kafkas asketischer Lebensentwurf, stellt der Biograf klar, war eine Reaktion auf Versuchungen aller Art und scheiterte regelmäßig. Einem Kafka- Klischee kann allerdings auch Alt nicht widerstehen: dem des „ewigen Sohns“, der, wann immer es ernst wurde, verzweifelt an seiner selbst gewählten Identität festhielt. Der die Schrift, das Medium der Verzögerung und der Abwesenheit, zur einzigen ihm entsprechenden Ausdrucks-, ja Lebensform wählte. Erst kurz vor seinem Tod entkam der schwer kranke Kafka seinem Phantasma und den Klauen von Mütterchen Prag. Für wenige Monate lebte er mit Dora Diamant in Berlin auf engstem Raum und schrieb, jawohl, schrieb wie gelöst. Schade daher, dass der Biograf ihm diesen kurzen Sieg über sich selbst nicht gönnt: Alt lässt die 15 Jahre jüngere Dora flugs zur Wiedergängerin von Kafkas Mutter werden. Ein „ewiger Sohn“ darf eben nicht erwachsen werden.
Peter-André Alt: „Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie“. Verlag C. H. Beck, München 2005, 767 Seiten, 34,90 Euro