System Ubw lebt noch

K-Gruppen, Lacan-Schüler, selbst Onkologen: sie alle haben Freuds Psychoanalyse wirkungsgeschichtlich fortgeschrieben. Und nun?

von MICHAEL RUTSCHKY

Das waren schöne Zeiten, damals. Die Welträtsel standen kurz vor ihrer Lösung. Die einen versprachen sie sich von Formeln wie: 20 Ellen Leinwand = 1 Rock = 20 Unzen Tee (usw.) = 2 Unzen Gold. Wenn man das nur angemessen verstünde, wäre der Absturz der Welt in Ausbeutung und Entfremdung und Verblendung erklärt. Die andere Fraktion grübelte darüber, wieso eine „Wahrnehmung“ sich in einer „Erinnerungsspur 1“, sodann einer „Erinnerungsspur 2“ (usw.) niederschlage, woraus schließlich ein „System Ubw“ entstehe, das im „psychischen Apparat“, also deiner Seele, vor die „Motilität“, also das Handeln, geschaltet sei.

Wir befinden uns in der „Traumdeutung“ von Sigmund Freud, dem notorischen siebten Kapitel, wo Aufschluss über die „Psychologie der Traumvorgänge“ (und Psychologie insgesamt) versprochen wird. Wer damals hier Belehrung zu finden versucht hat, wird sich an das gequälte Kopfschütteln erinnern, das Freuds Ausführungen erregten. Waren sie nicht selber a priori aussichtsloses Grübeln?

Dabei ging es auch Freud um so etwas wie Verblendung. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alb auf dem Gehirn der Lebenden – aber die Psychoanalyse würde diesen Alb vertreiben. Der Enthusiasmus für Freuds Lehre, der damals die zuständigen Kader ergriff, bildet ein eigenes Kapitel von 68. Wenn ich richtig sehe, ist es noch ungeschrieben. Was könnte man darin lesen?

Etwa dies: Wie Freuds Lehre den misstrauischen Studenten, die überall Ideologie, wenn nicht alte Nazis, witterten, durch einen eigentümlichen Purismus imponierte: Der fruchtbarste Teil war ja, einschließlich des Professors selbst, aus dem Nazireich emigriert und überlebte machtvoll als internationale Vereinigung mit eigenen Instituten und strengen Aufnahmeregeln. Man konnte zu einem unkorrumpierten Teil deutscher Wissenschaft – das Berliner Psychoanalytische Institut war das allererste und international vorbildlich – Kontakt aufnehmen, und an nichts glaubten bekanntlich die Achtundsechziger inniger als an Wissenschaft und Theorie.

Was angesichts dieser Theorie-Obsession ein wenig komisch wirkt: Es ging natürlich gleichzeitig immer um Sex. Freud ist der Philosoph, sagen die Historiker, der Schopenhauers Willen und Nietzsches Willen zur Macht einen neuen Namen gab, Libido, und ihre Schicksale bis in die feinsten Verästelungen unserer Träume hinein verfolgte. 68 nahm teil an der sexuellen Revolution, die um 1900, als Freud die „Traumdeutung“ schrieb, in vielerlei Gestalt einsetzte: als Lebensreform, als Natur- und Nacktheitskult, als Neugestaltung der Ehe, als greller Tabubruch in sexualibus, vor allem als Darüberreden. Keineswegs befördert es die gesellschaftliche Kohärenz, wenn Sex beschwiegen wird. Insofern trägt noch die ekelhafteste Kleinanzeige in der Stadtillustrierten mehr zum sozialen Frieden bei als jede Bußpredigt von Kardinal Meisner. „Die Allgewalt der Liebe“, heißt es an einer besonders schönen Stelle in Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ (1905), „zeigt sich vielleicht nirgends stärker als in diesen ihren Verirrungen.“

Freud persönlich lag die Teilnahme an dieser Revolution, die vor allem die Boheme trug, völlig fern, eine Boheme, die sich ja bis heute ständig erweitert. „Bloomsbury is everywhere.“ Als therapeutische Disziplin bezweckt die Psychoanalyse – wie auch immer man ihr Ziel beschreibt – keineswegs die komplette Enthemmung, die Entriegelung aller Sinne (wobei der Erfinder der Formel dérèglement de tous les sens, eine Heiligengestalt der Boheme, der Dichter Arthur Rimbaud, ebenso wenig Sex vor Augen hatte, vielmehr die Poesie). Andererseits kann ein bisschen praktische Enthemmung oft von großem Nutzen sein.

68 war eine Jugendrevolte – wie die von 1900, in die Freuds Lehre unabsichtlich hineingeriet. Zwei Dinge stehen dem jungen Menschen überklar vor Augen: erstens seine Ideale und zweitens seine Triebziele. Für 68 mag sich unter diesem Aspekt der wilde Freudschüler Wilhelm Reich mit seiner Propaganda für den Orgasmus stärker ausgewirkt haben als der strenge Bürger Freud – aber das sind Kleinlichkeiten. Mit Gewissheit kann man sagen, dass diese Revolution erfolgreich war. Ihr größter Erfolg war die Schwulenemanzipation. Die Lehre, dass alle Gesellschaft auf Sexualunterdrückung beruhe, eine Lehre, die noch Herbert Marcuses Schriften durchzieht, diese Lehre ist falsch. Von da an war alles Liebesunglück, nach einer berühmten Unterscheidung von Marx, menschliches Unglück und kein gesellschaftliches mehr.

Gerd Koenen hat in seinem schönen, dicken Buch über „Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977“ (S. Fischer Verlag 2001, 560 Seiten, 12,90 Euro) genau erzählt, welche komischen, auch anrührenden, oft peinlichen und qualvollen Geschichten die Marx-Leser von 68 in den Siebzigern verfolgten, indem sie immer noch eine Kommunistische Partei gründeten. Viele der Freud-Leser unternahmen einen vergleichbaren Schritt und suchten sich einen Platz auf der Couch. Ihr großer Vorteil: Die Psychoanalyse hatte keinen Lenin. Die Internationale Vereinigung, wie gesagt, existierte lebhaft fort, und ihre Vertreter in der BRD zu finden machte wenig Schwierigkeiten.

Anderseits bildeten die Schüler Freuds unterdessen nur eine von vielen Schulen (und Kindergärten) auf diesem Feld, und seitdem hat sich deren Spektrum kaum weniger vervielfältigt als seinerzeit die K-Gruppen. „California is everywhere.“ Wie dort vermischten sich die Psychotherapien irgendwann mit allerlei religiösen Praktiken, gern ostasiatischen Ursprungs, aber auch das gemeine Handauflegen kam wieder in Mode. Inzwischen liest sich der entsprechende Teil der Kleinanzeigen in der Stadtillustrierten ebenso bunt wie der für die Perversionen.

Viele Achtundsechziger fanden hier Trost und oft sogar ein eigenes Berufsfeld. Aus Erschöpfung und Enttäuschung verzichteten sie dankbar auf Theorie und Wissenschaft; die Strenge der Freud’schen Orthodoxie galt als geradezu lebensfeindlich. „Lass es fließen!“ Was Theorie und Wissenschaft selber angeht, so zerschlugen sich die Projekte, die an die legendären Arbeiten des Frankfurter Instituts für Sozialforschung anschließen wollten, an Horkheimer, Erich Fromm, Marcuse („Studien über Autorität und Familie“, 1936). Die sehnsüchtig erstrebte „Vermittlung“ von Psychoanalyse und Soziologie blieb aus; statt die Psychoanalyse als erkenntnistheoretisches Modell für Ideologiekritik insgesamt zu „rekonstruieren“, emigrierte Jürgen Habermas in die Sprach- und Moralphilosophie. Soziologen wie Ulrich Oevermann, Analytiker wie Alfred Lorenzer blieben in ihren Projekten stecken. Horst Eberhard Richter und Margarete Mitscherlich widmeten sich der politisch-moralischen Publizistik und zählten irgendwann zu den prominenten Bußpredigern der Republik.

Zugleich blieb Freud dem Geistesleben auf eine theoretisch anspruchsvolle Weise erhalten, indem nämlich die esoterischen Lehren von Jacques Lacan die zuständigen Kader erreichten. Das „Spiegelstadium“ ging geradezu in die Folklore ein, und hoffnungsvolle junge Belletristen, denen der Redakteur die Formlosigkeit ihrer Einsendungen vorhielt, redeten sich fein lächelnd auf das „Gleiten des Signifikanten“ heraus und versprachen als Nächstes einen Essay über Edgar Allan Poes Erzählung „The Purloined Letter“ (die Lacan zu einer kanonischen Schrift hochgejazzt hat). Überhaupt konnte man den Eindruck gewinnen, dass Freud Geisteswissenschaftler, speziell Literaturtheoretiker gewesen sei – Lacans Lehren waren von Paris zunächst in die USA gelangt, wo sie bei Literaturprofessoren die Leidenschaft für theory stimuliert hatten, eine bis heute anhaltende Beschäftigung, deren hasserfüllte Verächter ebenfalls weit entfernt vom Schweigen sind. Ein richtiger Kulturkampf. Der allerdings Deutschland nur stark abgeschwächt erreichte. Wenn überhaupt.

Im Hinblick auf Freud ist an Lacans hermetischen Lehren bemerkenswert, dass er sie als strikte Orthodoxie inszenierte; alles, was inzwischen an Fortentwicklungen stattgefunden hatte, insbesondere die so genannte Ich-Psychologie (an der Freuds Tochter Anna mitwirkte), sollte als Abweichung gelten. Zugleich überzeugte die literarischen Kader, dass diese Orthodoxie eine radikale Form der Kritik sein sollte, Kritik des Subjekts, des Bewusstseins, des Kapitalismus, der Gesellschaft – you name it. (Die Verächter behaupteten, es handle sich um die neueste Variante dessen, was in den Zwanzigern Salonbolschewismus hieß.)

Studiert man Elisabeth Roudinescos Biografie „Jacques Lacan. Bericht über ein Leben, Geschichte eines Denksystems“ (deutsch 1996, vergriffen), so begegnet man einem Lacan, der zugleich ein Genie und ein Scharlatan war, eine in der Geistesgeschichte öfter auftretende Mischung. Bedenkt man, dass zeitgleich mit diesen Erschütterungen der Literaturtheorie sich Mediziner Gedanken darüber machten, wie man selbst Krebserkrankungen psychoanalytisch aufklären könnte, so gewinnt man einen Eindruck von der unglaublichen Spannweite, in der sich Freuds Lehren durch die Zeit, durch die kulturellen Subsysteme fortbewegten.

Das ist ja alles schön und grün, mögen Sie unterbrechen, aber das Zentralproblem ist doch: Stimmen sie überhaupt, diese Lehren? Was man so hört, spricht doch eher dagegen. Viele halten Freud selber für so eine Mischung aus Genie und Scharlatan, und die Psychoanalyse sei nicht nur aus der Mode, sondern eindeutig widerlegt. Um es diplomatisch zu sagen: Das Unbewusste heißt das Unbewusste, weil es unbewusst ist. Man kann nicht darauf zeigen wie auf eine Außenwahrnehmung, man kann es nicht vorlesen wie einen Text. Gleichzeitig soll es sich einmischen in das Leben eines jeden, und es geht um Themen, die mit stärksten Gemütsbewegungen verknüpft sind, die Kindheit, Sex, Angst, Hass, Liebe, Schuld.

Was die Psychoanalyse dazu zu sagen hat, füllt eine Bibliothek, die ständig weiterwächst. Das Hauptproblem ist aber, dass man das Unbewusste, die psychische Realität nicht durch Besuche in dieser Bibliothek zu greifen bekommt. Man kann die psychoanalytischen Schriften in akademischen Seminaren und Vorlesungen traktieren, aber so bleiben sie, um es theologisch zu sagen, Buchstabenwissen. Das ist der Grund, weshalb die Psychoanalyse nie fester Bestandteil des Universitätskanons wurde: Man kann sich Freud nicht so aneignen wie Kant oder Hegel oder Heidegger. Wer wirklich wissen will, was es mit Freuds Ideen auf sich hat, muss auf die Couch und sich persönlich mit jenem Anderen ins Benehmen setzen, der Ich ist (eine weitere Formel des Dichters Rimbaud), eine teure und anstrengende Affäre, denn es geht ans Fell. Zu dieser Reise kann man niemanden zwingen, und so haben die Verurteilungen zu „Therapie“, von denen man, Sexualstraftäter betreffend, so oft in der Zeitung liest, ganz und gar nichts mit Freud zu tun.

Vom Feuilleton aus gesehen, das einst für die Psychoanalyse so schwärmte wie für Marx, steht es seit Jahren schlecht um Freud. Wenn Sie in sich die Meinung entdecken, der ganze Seelenkram sei ohnedies nur die Widerspiegelung chemischer und neuronaler Entladungen, Träume zu deuten zwecks Selbsterkenntnis sei Stuss, dann kann ich Sie als anhänglichen Feuilletonleser identifizieren. Außerdem breitete sich die Meinung aus, Freud sei mit seiner voranalytischen Theorie der sexuellen Verführung, die aller Neurose zugrunde liege, schuld an der moralischen Panik, ja Hexenjagd, die sich um den sexuellen Missbrauch von Kindern entwickelte – während die Hexenjäger Freud dafür schmähten, dass er die Verführungstheorie aufgab und die Autonomie der psychischen Realität, des Fantasierens postulierte.

Wie die kritischen Sozialwissenschaftler in den Dreißigerjahren, die rebellischen Studenten in den Sechzigern, die esoterischen Literaturtheoretiker in den Achtzigern entdeckt jetzt aber eine ganz andere Community die Psychoanalyse: die Neurowissenschaftler. Mark Solms hat in dem Beiheft, das die Faksimileausgabe der „Traumdeutung“ zu ihrem 100. Geburtstag begleitete (S. Fischer 1999, vergriffen) über diese Entwicklungen repräsentativ berichtet. Jetzt ist eine Studie erschienen, die haargenau von jenem siebten Kapitel ausgeht, über dem wir uns in den Sechzigern ergebnislos die Köpfe zerbrachen, der Sache mit der „Wahrnehmung“, die eine „Erinnerungsspur 1“ ausbildet, die in einer „Erinnerungsspur 2“ (usw.) sich fortsetzt, bis ein „System Ubw“ entstanden ist. Dieses Buch von François Ansermet und Pierre Magistretti („Die Individualität des Gehirns. Neurobiologie und Psychoanalyse“, Suhrkamp 2005, 22,80 Euro) reformuliert ebendiese Freud’schen Aufstellungen mithilfe der Neurowissenschaften. Wenn Sie persönlich also „das Unbewusste“ für einen ausgemachten Schwindel halten, mithilfe dessen sich Quacksalber die Taschen füllen – die avancierten Naturwissenschaften sehen das ganz anders. Mal sehen, wie die nächste Kehre in dieser Wirkungsgeschichte ausschaut.

MICHAEL RUTSCHKY, geboren 1943, ist Publizist und lebt in Berlin