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Archiv-Artikel

Eile vor Sorgfalt

An Niedersachsens Ganztagsschulen dauert bereits der Morgen einen ganzen Tag lang. Die Regierung Wulff schießt mit einem Erlass erneut einen juristischen Bock, die Opposition ist entzückt

von Kai Schöneberg

Was ist eine Ganztagsschule? Dieser Streit entzweit Opposition und Regierung in Niedersachsen, seit Familienpolitik en vogue ist. Das Land gebe fast keinen Cent für die Schulen, die der Bund großzügig fördere, zudem finde das Angebot, bei dem in Niedersachsen Ehrenamtliche Erste-Hilfe-Kurse oder Bastelnachmittage veranstalten, nur drei Tage in der Woche statt, meckern SPD und Grüne. Neue Frage im Ganztagszwist: Müssen Ganztagsschulen den ganzen Tag dauern?

Laut einem Minister-Erlass dürfen Ganztagsschulen ihren Namen tragen, wenn „an mindestens drei Tagen einer vollen Unterrichtswoche ganztagsspezifische Nachmittagsangebote eingerichtet sind“. In einer Novelle des Landesschulgesetzes steht jedoch, zum Ganztagsbetrieb gehöre „an mindestens vier Tagen“ einer vollen Unterrichtswoche der Unterricht – und zwar mit Mittagessen und Mittagspause. Das hat die Landtagsjuristen misstrauisch gemacht. Busemanns Erlass, der den Morgen zu einem ganzen Tag umdeute, sei schlicht „rechtswidrig“. Schon „das Erfordernis der Mittagspause dürfte der Annahme entgegenstehen, dass ein ganztägiges Angebot auch ohne Inanspruchnahme des Nachmittags möglich wäre“, heißt es einem Gutachten. Süffisant bemerken die Juristen, die Mittagspause solle „ja gerade zwischen Vormittags- und Nachmittagsangebot eingeschoben werden, was sich bereits aus dem Begriff ‚Pause‘ ergibt“.

Die Opposition ist quasi entzückt, dass die Wulff-Truppe, die nach dem Motto „Sorgfalt vor Eile“ regiert, erneut einen juristischen Bock geschossen hat. Gestern hieben Grüne und SPD Wissenschaftsminister Lutz Stratmann (CDU) wegen einer Äußerung seines Sprechers Thomas Reiter ein. Es geht um das vernichtende Urteil des Braunschweiger Verwaltungsgerichts vom Mittwoch, nach dem im Sommersemester 2006 keine Langzeitgebühren für Studenten erhoben werden dürfen (taz berichtete). Im Streit darum, ob das Ministerium oder die Juristen im Landtag den betreffenden Passus im Gesetz schlicht gestrichen haben, sagte Reiter, das Wissenschaftsministerium könne keine Angaben über Einnahmeausfälle machen: Die Zahl der Langzeitstudenten sei im Haus „nicht bekannt“. SPD-Wissenschaftsexpertin Gabi Andretta konterte, noch im September habe das Ministerium 8.047 Langzeitstudierende im Jahr 2006 erwartet. Angesichts der „Tatsache, dass es im Ministerium keine Statistiken zur Zahl der Langzeitstudierenden in Niedersachsen gibt, scheint mir das eine erstaunlich präzise Schätzung“. Der Gesetzes-Schlamper könnte Einnahmeausfälle in Höhe von vier Millionen Euro verursachen. Aber Reiter setzte gestern darauf, dass entweder durch ein neues Gesetz oder durch eine erfolgreiche Berufung doch noch Langzeitgebühren im Sommersemester erhoben werden könnten.

Bei den Ganztagsschulen ist die Sache raffinierter. Die bereits mit drei Nachmittagen genehmigten 185 „light-Ganztagsschulen“ im Land dürften „massive Probleme mit ihrer Stundenaufteilung bekommen, weil sie in Zukunft auch an einem Vormittag pro Woche ein Zusatzangebot machen müssen“, sagt die grüne Schulexpertin Ina Korter. Ergo: Die Schulen müssten das Angebot nach dem Gesetz ohne Geld organisieren.

„Die Passage ist rechtswidrig, aber nicht nichtig – das sagen die Landtagsjuristen doch in einem ersten Gutachten selber“, sagt der Sprecher des Kultusministeriums, Georg Weßling. Im Gesetz stehe nicht, dass es sich bei ganztägigen auch um Nachmittags-Angebote handeln müsse. Weßling: „Egal, welche Auffassung man hat: Für die Schulen ist Rechtssicherheit gegeben.“