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Westen, Kelek etc.Lob der Kompliziertheiten

Heute packen wir in diese kleine Spalte mal eine ganz große Frage. Diese: Was ist eigentlich attraktiv am Leben im Westen? Der hat Probleme!, werden Sie jetzt denken. Aber in der derzeit angespannten Großdebattenlage – Bürgerlichkeit ja oder nein, Mohammed-Karikaturen ja oder nein, nun auch noch Necla Kelek ja oder nein – kann man sich ja auch mal über so etwas Gedanken machen.

Schließlich sorgen sich sogar Verfassungsrichter um die Attraktivität der westlichen Kultur. Udo di Fabio hält es für unattraktiv, wie der Westen mit seinem falschen Freiheitsbegriff seine Werte und Alltagsbindungen anknabbert. Kann schon sein, das mit dem Anknabbern. Nur ist es nicht auch so, dass das Leben im Westen deshalb als angenehm empfunden wird, weil es oft mit Wohlstand verbunden ist? Und ist es nicht weiter so, dass die Voraussetzung des Wohlstands, die Wertschöpfung, oft im Widerspruch zu Bindungen steht? Bei diesem lebensweltlichen Widerstreit zwischen Bindungen (Familie, Kinderkriegen) und wirtschaftlichen Notwendigkeiten (Flexibilisierung, Karrieredenken) haben konservative Denker ihre Hausaufgaben nicht recht gemacht; sie reden oft darüber hinweg. Alle anderen können sich überlegen, ob eine Attraktivität des Westens nicht gerade darin bestehen könnte, dass man mit solchen Widersprüchen umgehen lernt. Es kann kompliziert sein, so ein Leben, aber immerhin ist es das eigene.

Überhaupt stehen Kompliziertheiten und Ausdifferenzierungen vielleicht insgesamt zu Unrecht in einem schlechten Ruf. Zum Beispiel kann man es auch ganz attraktiv finden, wenn Wissenschaftler nur aus dem einzigen Grund forschen, dass sie Phänomene verstehen wollen. Für Menschen, die von vornherein wissen, was Sache ist, und deshalb zum Aktivismus drängen, mögen die Ergebnisse oft kontraproduktiv sein – wie gerade der Streit zwischen der Aktivistin und Öffentlichkeitswachrüttlerin Necla Kelek und der deutschen Islamwissenschaft zeigt. Aber für Menschen, die glauben, dass man, um gesellschaftliche Missstände zu beheben, nicht gleich die Kategorie der Wahrheit im Ganzen über Bord kippen muss, kann es doch ganz attraktiv sein, wenn Wissenschaft und gesellschaftliches Engagement auseinander gehalten werden.

Wachrütteln kann prima sein. Aber attraktiv ist nur eine Gesellschaft, die prüft, ob zu Recht gerüttelt wird. DIRK KNIPPHALS

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