Die Schönheit der Groteske

Mit Ingrimm über nichts streiten: Im Berliner Ensemble inszeniert George Tabori „Warten auf Godot“ zum zweiten Mal und wieder neu

Die Spielfläche ist von einer kreisrunden Leuchtröhre eingegrenzt. Ein Baum, im ersten Akt kahl, im zweiten mit genau vier Blättern versehen, bildet das einzige Requisit, abgesehen von einem Lautsprecher. Nein, halt. An der linken Seite steht ein Tischchen. An einer Seite hat die Souffleuse Platz genommen; auf der anderen sitzt im Lehnstuhl George Tabori, der Regisseur. Er sitzt einfach nur da, nimmt ein Schlückchen, greift nicht ein. Auf der Studiobühne des Berliner Ensembles ist er, der 91-Jährige, am letzten Samstag zu Samuel Becketts „Warten auf Godot“ zurückgekehrt.

Aber anders als bei der berühmten Münchner Godot-Inszenierung Taboris von 1984, die als Leseprobe funktionierte, geht es diesmal auf der Bühne ziemlich bewegt zu. Estragon und Wladimir, die beiden wartenden, schwarz gekleideten Vagabunden, umkreisen, umarmen umtänzeln sich und führen ein virtuoses gegenseitiges Wechsel-den-Hut-Spiel auf. Es sind Clowns-Figuren. Beckett selbst hat der Clownerie die Tür geöffnet – schon mit der Eingangspantomime, in der Estragon vergeblich sucht, sich seiner Stiefel zu entledigen. Wie im Zirkus wird bei Tabori eine Rolle, die des Boten-Kindes, der Godots Ankunft jeweils für den nächsten Tag verspricht, von einem Zwerg, Peter Luppa, gespielt. Das Publikum darf sich an der Vorführung beteiligen. Wladimir setzt einer Lady in der ersten Reihe seine Melone auf und fordert wenig später dazu auf, mit ihm das Schlaf-Liedchen für den kleinen Prinzen anzustimmen.

Michael Rothmann und Axel Werner, die beiden „Wartenden“, beherrschen wunderbar die Tempi zwischen dem ratternden, durchdrehenden Stakkato, der Einsilbigkeit und dem Schweigen. Sie fischen im Text nicht nach billigen, publikumswirksamen Pointen. Fast nebenbei gesprochen kommt der Satz „Wollen wir uns aufhängen?“. Oder lassen wir’s bleiben. Alles ist gleich gültig und gleichgültig. Selbst die Vergewisserung, man warte schließlich auf Godot.

„Warten auf Godot“, so Tabori, „handelt vom Warten auf Godot und nichts anderem – was in sich genug ist.“ Es geht Tabori nicht darum, in der Inszenierung eine „eigentliche“ Bedeutung des Wartens aufscheinen zu lassen, vor allem verschließt er sich der religiösen Interpretation, bei der Godot (angeblich das englische Wort für god und das französische -ot als angehängtes Diminutiv, also Gottchen) Gott ist, auf dessen Erscheinen die Menschen vergeblich warten und doch hoffen – credo quia absurdum. Beckett zeigt sich – auch im Godot – als theologisch überaus versiert, aber seine diesbezüglichen Anleihen dienen nur dazu, das endlose Gequatsche im Kampf gegen die Langeweile des Wartens am Laufen zu halten. Und sie dienen der zwanghaften Erinnerung. Wladimir erinnert sich, während Estragon alles vergisst. Tabori entfacht die leidenschaftliche Emphase, mit der völlig Bedeutungsloses erinnert, den Ingrimm, mit dem über nichts gestritten wird, und gleichzeitig die Leichtigkeit, mit der über die „letzten Dinge“ hinweggegangen wird. Das ist umwerfend komisch und erschreckend zugleich.

Am ehesten noch könnte man am Auftritt von Lucky und Pozzo, einer Variation auf das Thema der Abhängigkeit von Herr und Knecht, nach Tiefsinn fahnden und Hegel als Zeugen aufrufen. Roman Kaminski als Knecht Lucky parodiert bei Tabori virtuos den leer laufenden Wissenschaftsjargon, der nur solange funktioniert, wie er seine Wissenschaftsmütze aufhat, um schließlich im sinnlosen Gebrabbel zu enden. Im zweiten Akt ist Lucky stumm und sein Herr blind. Also keine erfolgreiche „Abarbeitung“ des Knechts am Herrn wie bei Hegel. Aber auch kein Dementi, keine Klage über die fortdauernde Kettung des Knechts an den Herrn und umgekehrt. Nur eine folgenlose Groteske. Sofort von Estragon vergessen.

Dass „Warten auf Godot“ im Berliner Ensemble, also Brechts Weihestätte, inszeniert wird, entbehrt ebenfalls nicht der Komik. Tabori schildert sich als Bewunderer, als Schüler Brechts wie Becketts. Brecht selbst wollte ein Gegenstück zum „Godot“ verfassen, das hinter dem Warten die Ausbeutungsverhältnisse und hinter Godot den Großgrundbesitzer sichtbar macht. Das Projekt ist liegen geblieben, aus gutem Grund. Und „Warten auf Godot“ als Warten auf den Sozialismus? Wer will, kann diese Botschaft für sich reklamieren, Taboris Inszenierung gibt sie nicht her. Sie lässt vielmehr an die abgründige Komik eines Meisters denken, dem die beiden Antagonisten, Brecht wie Beckett, verbunden waren: Karl Valentin. Er war an diesem Abend unsichtbar allgegenwärtig.

CHRISTIAN SEMLER