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Archiv-Artikel

betrachtet das Treiben auf Berlins Bühnen

ESTHER SLEVOGT

Berlins wunderlichstes, krassestes und vielleicht auch autistischstes Theaterkunstwerk ist zurzeit im Prater der Berliner Volksbühne zu sehen. Wir erinnern uns: In Zeiten, wo sogar die 3-Sparten-Häuser ums Überleben kämpfen, also Theater mit Oper, Schauspiel und Tanz, hat das norwegische Duo Ida Müller und Vegard Vigne nun schon vor ein paar Wochen ein 12-Sparten-Haus eröffnet: Theater total also, dachte man. Motto: schafft zwei, drei, viele Sparten. Und spielt Theater, bis ihr nicht mehr könnt. Oder die Zuschauer zusammenbrechen. Und in gewisser Weise ist das auch geschehen. Die Vorstellungen dauern über zehn Stunden. Die Zuschauer fallen auf den kargen Holzbänken immer wieder ins Koma, nicht alle halten bis zum Ende durch. Nur: sie sitzen die ganze Zeit im Foyer, und kommen gar nicht ins Theater hinein. Über Leinwände wird immer mal wieder ein schrilles Bruchstück aus dem Innern übermittelt: zum Beispiel, wie eine Dramaturgin ein Tampon gebiert, welches sodann einem Politiker als Teebeutel dient. Die Vita dieses Politikers weist entfernte Verwandtschaft mit Peter Stockmann, dem Stadtvogt aus Henrik Ibsens Stück „Ein Volksfeind“, auf. Ist dies das Stück, das im 12-Sparten-Haus gespielt werden soll, zu dem wir aber noch immer keinen Zutritt erhielten? Obwohl wir Eintritt zahlten! Man hat auch schon Bruchstücke der Bühne gesehen, auf den Videos: ein wilder Wald, durch den vorzeitliche Monster stapften. Und einen wunderbaren Zuschauerraum, fast leer, versteht sich. Nur manchmal nimmt da jemand Platz. Ein alter Theaterdirektor zum Beispiel. Aber nicht das Publikum. Also wir. Am Freitag und am Sonntag gibt es wieder die Möglichkeit, dass Besucher zu denen gehören, die an der Erlösung teilhaben dürfen: und ins Theater gelassen werden, statt zwölf Stunden davor auszuharren. Denn ein bisschen funktioniert das 12-Sparten-Haus auch wie eine Religion: Generationen nehmen das Leiden für ein Paradies in Kauf, das zwar versprochen, aber in ungewisser Zukunft liegt. (Prater der Volksbühne: „12-Spartenhaus“, 21. 6., 18 Uhr, 23. 6., 16 Uhr).

„Imitation of Life“ heißt ein Theaterabend des Schweizer Performers Boris Nikitin, der immer wieder mit den Grenzen zwischen Kunst und Leben spielt, sie verwischt, verschiebt oder verdreht. Und die Zuschauer damit das Sehen lehren möchte in Zeiten wie diesen, wo man oft gar nicht mehr weiß, wo die Inszenierungen enden und das Leben beginnt. Die vier Jahre alte Arbeit spielt mit gefälschten Bildern, Biografien und Geheimdienstberichten. (HAU: Imitation of Life“, 20.–22. 6., jeweils 20 Uhr)

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