piwik no script img

Archiv-Artikel

In Mehl gestippte Legehähne

Raus aus der Entfremdung – mit Verfremdung: Beim Club Transmediale veranstalteten Künstler rund um die „Sibirische Zelle“ den bislang merkwürdigsten Abend des Festivals

Die Toilette putzen, während eine Stimme über die Absurdität des Daseins und das Wissen vom Tode räsoniert. Eine Selbstverbrennung im Loop, dazu Swing-Musik. Absurd und komisch, das waren die Filme und Hörspiele, die Autor Herman Bohlen am Mittwoch beim Club Transmediale vorführte. Seine Found-Footage-Arbeiten bildeten den Auftakt zu einer Nacht, die unter dem Namen „Sibirische Zelle“ firmierte. Die „Sibirische Zelle“ ist ein Veranstaltungsort, den das Künstlerkollektiv Column One 2004/05 am S-Bahnhof Greifswalder Straße betrieb. Die Zelle begriff sich als „erste antidadaistische Loge“ und untersuchte, was sich wie zusammenbringen lässt.

Eingeladen hatten Column One auch die Komponistin Limpe Fuchs – eine Münchner Kapazität seit den späten Sechzigern in Sachen freie Improvisation und Instrumentenbau. Wie mit ihrem früheren Projekt „Anima Musica“ demonstrierte sie in der Maria am Ostbahnhof noch einmal, wie sich über die Konventionen von Instrument und Stimmung hinwegsetzen lässt. Unter dem Motto „Listen to the tone disappearing“ erkundete sie spielerisch die Formbarkeit des Klangs: beeindruckend ihre „Ballastsaitenbäume“ – drei Meter hohe Bronzetrommeln, von denen Stangen an Stahlseilen herabhingen. Diese leicht monströsen Gebilde hallten lange metallisch nach oder simulierten einen riesigen Kontrabass, je nachdem, ob Fuchs mit Klöppeln auf die Stangen schlug oder die Saiten strich. Abseits davon bediente die Komponistin noch eine auf dem Boden rollende Holzkugel, ein Xylophon in eigener Stimmung – und, o Wunder, eine ganz konventionelle Violine. Am Schluss meinte sie lapidar: „Ich hoffe, das hat Sie angeregt“ – und gab ihre Instrumente Marke Eigenbau zum Erproben frei. Das Transmediale-Volk ließ sich nicht lange bitten.

Musste aber die Schlegel bald wieder hinlegen, als es zum nächsten Konzept-Happening ging: Die vier Künstler von Column One selbst traten unter dem Titel „Diesel. A Musical To Believe In“ an. Der Titel sowie die Performance waren wohl nicht zuletzt als kritische Auseinandersetzung mit dem Festival und dem Club als Ausdrucksformen von Kapitalismus gedacht.

Auf zwölf synchron geschalteten Videoleinwänden flimmerten Szenen und Symbole aus der Waren- und Kommunikationswelt, begleitet vom tiefen Brummen erbarmungslos monotoner Rhythmen. Zu diesen Bildern vollführte das Quartett in Fuchs- und Hahnenmasken ritualartige Handlungen: Der Fuchs zog einen Kreis aus Mehl, darin knieten die Hähne auf Häuflein aus Cornflakes, um sich postwendend rhythmisch in den Mehlstaub zu werfen, während über ihnen auf den Videoleinwänden mancherlei Uhren tickten. Mit einem Picknick, bei dem Lebensmittel sowohl auf dem als auch im Kopf landeten, endete die Performance – die Akteure mit den Rücken einander zugewandt. Wenn es hier, wie zu vermuten, um Konsum, Entfremdung und Vereinzelung gehen sollte, dann schienen die inszenierten Entfremdungsformen doch ein bisschen didaktisch durchdekliniert.

Das Duo Marc Wannabe schließlich machte abstrakt weiter: Samples und Songfetzen mischten sie unter die Beats, die vor willenlosen Zuhörern pluckerten. Einer der beiden Musiker steckte in einem Overall mit elektrischen Kontaktflächen. Der Elektromusiker als lebendige Tastatur: eine schöne Idee – aber vor allem von theoretischem Interesse.

TIM CASPAR BOEHME