: Zivilcourage
Manchmal muss man mutig sein. Nur deswgen, weil andere Leute nicht merken, dass Trennungen viel mit dem Schlachtfest der nackigen Affen zu tun haben
Abends vor dem Kino. Nach dem Film ist vor dem Film, und auch jetzt ist man gleich schon wieder im nächsten drin: „Halt“, schreit ein ganzes Stück die Straße herunter verzweifelt eine Frau, „halt – der hat mein Telefonbuch!“
Ein Dieb! Sofort ätzt sich das Adrenalin wie Toilettenreiniger durch die latent verstopften Rohre meiner Wahrnehmung: Ich bin hellwach. Und da schliddert der Gemeinte auch bereits schnaufend durch Schnee und Eis auf mich zu – ein kleiner Mann mit bunter Mütze, gefährlich sieht er aus, eigentlich nicht, doch das ist ja gerade das Gefährliche: Man weiß ja nie.
„Halt, mein Telefonbuch!“ Kläglich klingt das. Aber sie kriegt doch sicher auf jedem Postamt schnell und unbürokratisch ein neues. Bloß weil sie zu faul ist, sich in der Schlange anzustellen, soll ich jetzt mein Leben riskieren? Der erste Gedanke ist nämlich der klassische Gedanke jedes anderen Wichsers auch: „Immerhin ist das ja wohl ein Straßenräuber – also hat er bestimmt ein Messer.“ Als stünde das in der Räuberordnung, § 7: „Während der Berufsausübung im öffentlichen Straßenland hat der Räuber ein fiese Geräusche machendes Schnappmesser nicht unter 15 Zentimeter Klingenlänge bei sich zu führen und davon jederzeit rücksichtslos Gebrauch zu machen.“
Und dann sticht er mich damit, der kleine böse Mann: piek, piek, piek! Als hätte ich nicht längst gelernt, dass ein schnelles Ende auch seine Vorteile haben kann gegenüber jahrelangem Siechtum und Demenz; als würde das Ende der eigenen Vitalfunktionen sämtliches Unrecht dieser Welt überwiegen. Das ist nun mal ihr Telefonbuch. Die Frau ist noch kleiner als der Mann – vielleicht braucht sie die Schwarte auch für den Fahrersitz, damit sie beim Autofahren was sieht. Schließlich könnte es auch mein Kind sein, das sie ohne Buch dann notgedrungen überfährt.
Aber ich habe ja kein Kind, ich übernehme ja nie Verantwortung für irgendjemanden, auch nicht für diese Frau, der sonst keiner hilft. „Halt – der hat mein Telefonbuch – da stehen alle meine Adressen drin!“ Ach so. Der Mann ist jetzt auf gleicher Höhe. Ich fahre meinen Arm wie eine Schranke vor ihm aus, ohne ihn zu berühren. Überrascht bleibt er stehen und blinzelt eher genervt denn aggressiv, doch ich lasse mich nicht täuschen: Man weiß ja nie. Nicht zuletzt bin ich ungefähr achtmal so groß wie er, das könnte ihn ängstigen und dann sticht er sofort zu: piek, piek, piek!
„Das ist meine Freundin“, knurrt er, anstatt einfach um die Schranke herumzulaufen. Und dann wäre wirklich Zivilcourage gefragt. Nicht, dass ich mit Zivilcourage nichts am Hut hätte – im Gegenteil, in der Schule habe ich sie alle durchgenommen: Mutter Teresa, Geschwister Scholl, Gebrüder Grimm – in der Zivilcourage sind wir alle eine große Familie. 1987, Hermannplatz, Berlin – Teilnahme an einer Demo gegen die „Republikaner“; 1981, Marienplatz, München – bei defekter Rolltreppe an einem fremden Kinderwagen mit angefasst; 1973, Prien am Chiemsee – im Rinnstein Lederhandschuh gefunden und zum örtlichen Fundbüro gebracht: alles Meilensteine in einem Leben, gewidmet der Zivilcourage.
Die Frau hat uns eingeholt. „Ist das dein Freund?“, frage ich sie. „Das war mein Freund“, keucht sie, „und jetzt hat er mein Adressbuch geklaut und will alle meine Bekannten anrufen.“ Aus dem Augenwinkel betrachte ich ihn prüfend: Sollte er wirklich dermaßen blöd sein? Wahrscheinlich. Siedend heiß fallen mir unglaubliche Szenen aus meiner schwärzesten Vergangenheit ein: Zwei Leute machen sich in aller Öffentlichkeit erst total nackig und anschließend unkontrolliert zum Affen, um sich am Ende gegenseitig zu zerfleischen. Andernorts sagt man „Trennungambo“ dazu, ursprünglich ein ritualisierter Festschmaus, in dessen Rahmen Schimpansen rasiert und auf einem großen Erdgrill geröstet werden, das sogenannte „Schlachtfest der nackigen Affen“. Bei uns entwickelte sich fälschlicherweise der Begriff „Trennung“ daraus.
Oft glaube ich, es ist besser, dass der Mensch alleine sei. So erspart er sich eine Menge Scheiße. Und anderen auch. „Na dann …“, zucke ich mit den Schultern – die Schranke geht hoch, und er trollt sich.
Ein anderer Kerl kommt quer über den Damm geeilt: Ob er den Dieb festhalten solle? Noch so ein verhinderter Sheriff! Ich habe das Gefühl, der sucht nur eine Gelegenheit, einem Schwächeren gesellschaftlich sanktioniert in die Fresse zu hauen. Zum Glück lehnt die kleine Frau ohne Telefonbuch schwach, aber entschieden ab. Sie gönnt sich demnächst garantiert eine Auszeit.
ULI HANNEMANN