Ich wurde entführt!

Von Russen, Arabern und Walisern im Auftrag eines höheren Wesens verschleppt

„Wir kommen auf Befehl eines höheren Wesens und machen nur unsere Arbeit“

Als ich aufwachte, waren sie schon da! Die Russen! Fünf an der Zahl, aber genau genommen waren es nur drei Russen sowie ein Waliser und ein Araber. Alle sahen mich grimmig an, und ich zog mir vor Angst die Decke über den Kopf! Aber ich lugte unter der Decke hervor, denn ich war ein wenig neugierig. Die Russen waren alle ungefähr sieben Meter groß, der Araber war nur rund vier Meter groß und der Waliser war etwas kleiner als ich. Ich bibberte vor Angst, denn man wird ja nicht jeden Morgen von drei Riesenrussen, einem Großaraber und einem Winzwaliser überrascht. Wie die fünf in meine Wohnung gekommen waren, ist mir bis heute nicht ganz klar, sie waren einfach plötzlich da. Und starrten mich an. Mit glühenden Augen! Mit wütenden Blicken! Mit listigem Blinzeln! Mit irrem Zwinkern! Mit grimmigen Mienen!

„Haltet ein in eurem grimmigen Starren, denn es ist nicht höflich von drei Russen, einem Araber und einem Waliser, eine Frau beim Aufwachen grimmig anzustarren!“, wollte ich gerade rufen, als auch schon der grimmigste der Russen das Wort ergriff: „Ich bin Wladimir, das sind Alexej, Fjodor, Abdul und Merf. Wir kommen auf Befehl eines höheren Wesens und machen nur unsere Arbeit.“

Damit ergriff Wladimir mit seinen riesigen Händen, die so groß waren wie Tennisschläger, meine Bettdecke an allen vier Zipfeln und brachte es zustande, mich selbst noch in das Bündel zu packen. Er hob die Decke mit mir darin hoch und warf das ganze Paket in einen großen Pappkarton. In diesem Karton wurde ich dann für eine Weile vergessen, was mir die Gelegenheit bot, die grobschlächtigen Gesellen über den Rand des Kartons hinweg heimlich dabei zu beobachten, wie sie meinen gesamten Hausrat zerlegten. Wladimir zerschlug mit einer Axt meinen Plattenspieler! Alexej drehte meiner Schildkröte den Hals um! Fjodor hieb mit einem Hammer auf mein Geschirr ein! Abdul fackelte meine Pferdebildersammlung ab! Und Merf zertrat den ganzen Rest der Möbel!

Es war wie ein Alptraum, aber ich war mittlerweile hellwach und überdachte mein Leben. Was konnte ich nur Schlimmes getan haben, das eine solche Bestrafung auf Anordnung eines höheren Wesens rechtfertigen sollte? Gut, ich hatte als Kind mal meine Turnschuhe unter der Schulbank liegen lassen, obwohl das streng verboten war. Auch hatte ich mal einen jungen Vogel aus dem Nest geholt und den Eltern vorgelogen, er sei einfach herausgefallen. Später hatte ich zwar im Supermarkt Toilettenpapier gestohlen und sinnlos in der Straße abgerollt und auch eine Kakerlake zu Tode gefoltert, weil ich Sargotanspray mit Insektenmittel verwechselt hatte – aber konnte all das der Grund sein? Oder wüteten diese Wilden in meiner Wohnung, weil ich die Türchen von Adventskalendern vor der Zeit geöffnet, einem verhassten Intendanten die Karriere versaut und meinen ehemaligen Klassenlehrer erstochen und verscharrt hatte? All das konnte nicht die Ursache dieser Vorgänge sein, die sich vor meinen schreckgeweiteten Augen abspielten: Wladimir warf mein Fahrrad aus dem Fenster! Alexej fraß mein Modem! Fjodor zerriss meine Bücher! Abdul überspielte meine alten Lieblingskasetten mit Pur-Liedern! Merf schredderte alles, was noch übrig war!

Als die wilden Kerle fertig waren, zog ich mich ganz in meinen Pappkarton zurück und wagte kaum zu atmen, denn ich hoffte, sie würden mich vergessen und wieder verschwinden. Aber da hatte ich nicht die Rechnung mit Wladimir gemacht. Er nahm den Pappkarton mit mir und der Bettdecke darin, trug ihn hinaus und warf ihn auf die Hinterbank eines blauen Autos. Alexej setzte sich auf den Beifahrersitz, Wladimir steuerte das Auto und Fjodor, Abdul und Merf fuhren mit einem kleinen Lastwagen hinterher. Der ganze Vorgang, sich ins Auto zu quetschen, dauerte eine Weile, denn bis auf Merf, den Waliser, waren meine Entführer ja alle schrecklich groß, so dass sie sich einer offensichtlich schon öfter angewendeten Falttechnik bedienen mussten. Aber irgendwann war es geschafft. Während der Fahrt hörten Wladimir und Alexej irrsinnig laut russische Musik, und Alexej brüllte in sein Handy hinein, weil die Musik so laut war. Zwischendurch brachen Wladimir und Alexej in einen ungeheueren Lachkrampf aus. Ich verstand von alledem kein Wort, weil ich des Russischen nicht mächtig bin.

Nach ungefähr 17 Stunden hielt das Auto an. Wladimir und Alexej warfen sich seitlich aus den Türen und entfalteten sich wieder. Wladimir zog mich im Pappkarton von der Rückbank ins Freie. Ich riskierte einen Blick nach draußen und sah, dass der kleine Lastwagen mit Fjodor, Abdul und Merf auch schon angekommen war. Wir befanden uns offensichtlich auf dem Gelände eines Geheimlabors, denn ich sah weiß gekachelte Gänge, verschiedene Apparaturen und Menschen in weißen Kitteln, die geschäftig hin und her liefen.

Ein weiß bekittelter Mann gab Wladimir einen großen Umschlag – ich vermute, dass Geld darin war –, und Wladimir, Alexej, Fjodor, Abdul und Merf falteten sich wieder in ihre Autos und verschwanden grußlos.

Dann ging alles ganz schnell. Der Weißkittel zog mich aus meinem Karton und gab mir ein paar Spritzen. Ich verlor das Bewusstsein. Als ich wieder erwachte, war ich zu einer wissenschaftlichen Sensation geworden: Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit war es gelungen, ein menschliches Wesen in Alufolie zu verwandeln!

Ich bin mir nicht ganz sicher, was ich davon halten soll.

CORINNA STEGEMANN