: Merkels Wohlfühloffensive für die Mittelschicht
STRATEGIE Verängstige niemanden durch zu viel Veränderung: Mit ihrem Wahlprogramm bedient die Union ein sehr deutsches Bedürfnis
AUS BERLIN ULRICH SCHULTE
Wenn Papier sprechen könnte, dann hätte das Wahlprogramm der Union eine tiefe, sonore und beruhigende Stimme. Eine, die immer wieder Sätze brummt wie: Sorgt euch nicht. Alles wird gut. Es bleibt so schön, wie es ist.
Während Berlin sich noch vom Obama-Hype erholt, wird viel zwischen dem Konrad-Adenauer-Haus und der CSU-Zentrale in München telefoniert. Die Unionsführung stimmt die letzten Feinheiten ihres Programms für die Bundestagswahl ab. Am Sonntag ist ein Treffen der Spitzen um Kanzlerin Angela Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer anberaumt, am Montag wird der Text in Berlin der Öffentlichkeit präsentiert. Ein Entwurf, an dem sich nicht mehr viel ändern wird, wurde bereits diese Woche an die CDU-Vorstandsmitglieder verschickt. Das Papier, das der taz vorliegt, ist eine Wohlfühloffensive, die auf die Mittelschicht und unionsaffine Milieus zielt.
So verspricht die Union anders als Rot-Grün, ohne Steuererhöhungen auszukommen. Sie lehnt eine Vermögensteuer oder höhere Erbschaftsteuern strikt ab. Mehr noch, sie verspricht Entlastungen: Die Union kündigt an, die „kalte Progression“ abzubauen. Also den Effekt, der bewirkt, dass Lohnerhöhungen von höheren Steuertarifen aufgefressen werden. In der Familienpolitik plant die Union ein Familiensplitting, was faktisch eine Ausweitung des Ehegattensplittings bedeutet. Familien sollen für Kinder die gleichen Steuerfreibeträge wie für Erwachsene geltend machen können, ebenso möchte die Union Kindergeld und -zuschlag erhöhen.
Ein weiteres wichtiges Projekt, das Merkel zuvor persönlich hervorgehoben hatte, ist eine Rentenangleichung. Ab 2014 will die Union für alle Mütter oder Väter, deren Kinder vor 1992 geboren wurden, die Erziehungsleistung mit einem zusätzlichen Rentenpunkt in der Alterssicherung berücksichtigen. Eltern mit jüngeren Kindern bekommen im Moment eine höhere Rente als diese Gruppe. Die Kosten von 7 Milliarden Euro soll nach dem Willen der Union die Rentenversicherung übernehmen.
Grundsätzlich gilt: Die Finanzierung ist der große Schwachpunkt des Programms. Denn die Vorhaben würden dutzende Milliarden Euro kosten. Merkels CDU und die CSU sagen jedoch nicht, wo das Geld für die teuren Versprechen herkommen soll. Dafür wimmelt es von wolkigen Phrasen und Hintertürchen. Man prüft, man will – und wenn, dann nur schrittweise.
Die Anliegen haben gemeinsam, dass sie die ökonomische Mittel- und Oberschicht begünstigen. Die Steuereffekte lassen Niedrigverdiener außen vor, weil diese gar keine Steuern zahlen – bei den Gutverdienern aber summieren sie sich zu erklecklichen Nachlässen. Die Angleichung der Mütterrenten hilft Frauen mit erwachsenen Kindern, die ihren Beruf aufgaben, um ihrem Mann den Rücken freizuhalten.
„Die Union ist der Garant für eine kluge Politik, für eine solide Währung, stabile Finanzen, wirtschaftliche Stärke und sichere Arbeitsplätze“, heißt es in der Präambel. Dies ist ein nachgerade typischer Satz für das Programm. Solide, stabil, sicher – diese Motive werden auf den 125 Seiten immer wieder neu variiert. Kanzlerin Merkel, die sich 2009 mit einem einschläfernden Kuschelwahlkampf ihre zweite Amtszeit sicherte, hat gelernt, dass zu viel Veränderung viele Bürger ängstigt. Sie wird bis September dieses sehr deutsche Bedürfnis bedienen.
Eine Strategie von 2009 will Merkel wiederholen. Indem sie Themen von SPD und Grünen besetzt, versucht sie, deren Wählermilieus zu sedieren. Die Union tritt ebenso wie Rot-Grün für einen Mindestlohn ein. Dieser soll jedoch nicht vom Staat gesetzlich angeordnet, sondern von den Tarifpartnern für einzelne Branchen verhandelt werden. Auch die SPD-Idee einer Mietpreisbremse hat die Union kopiert. Sie will aber deren Festlegung den Ländern überlassen.