Süße Blasphemie

SUFISMUS Esoterik mit ideologischen Nebenwirkungen: Elif Shafaks Roman „Die vierzig Geheimnisse der Liebe“ ist nicht toll – aber aufschlussreich

VON INGO AREND

Gibt es einen friedfertigen Islam? Spätestens seit dem 11. September 2001 quält den Westen diese Frage. Das Bild der brennenden Twin Towers in New York, der Anschlag auf den dänischen Karikaturisten Knut Westergaard und die nicht abreißende Serie islamistischer Selbstmordattentate hat das pessimistische Bild von den Erben Mohammeds gefestigt. Hierzulande gilt der ganze Islam inzwischen als Religion, die vor allem von einem Wert gekennzeichnet ist: Hass.

Man könnte Elif Shafaks neuen Roman „Die vierzig Geheimnisse der Liebe“ als verkapptes Plädoyer für diesen – händeringend gesuchten – friedlichen Islam lesen. Auch wenn das Ganze als Erbauungsliteratur für den gehobenen Mittelstand daherkommt. Die Ehe von Ella Rubinstein, Hausfrau in einer amerikanischen Kleinstadt, kriselt. Ihr Mann David geht fremd. Die Mutter dreier Kinder mit einem viktorianischen Heim und einem treuen Hund fühlt sich, kurz vor ihrem 40. Geburtstag, unausgefüllt. Deshalb hat sie einen Nebenjob in einer Literaturagentur angenommen. Und dort spielt ihr der Zufall das Manuskript eines unbekannten Autors in die Hände. „Süße Blasphemie“ hat der seinen Roman genannt, in dem er eine berühmte Liebesgeschichte aus dem 13. Jahrhundert nacherzählt: die zwischen dem Prediger und Lyriker Mevlana Rumi aus Konya und dem jungen Wanderderwisch Schams-e-Tabrizi – zwei Lichtgestalten des Sufismus.

Unter dem Eindruck dieser Geschichte beginnt Ella erst widerstrebend, dann mit fliegenden Fahnen, ihr Leben zu ändern. Gerade hat sie ihre Tochter, die noch aufs College geht, der romantischen Unvernunft geziehen, weil sie ihren Freund heiraten will. Da erliegt sie dem Zauber einer Denkrichtung, deren Kernsatz lautet: „Ein Leben ohne Liebe ist ohne Bedeutung.“ Als sie mit Aziz, dem Autor des Romans, erst einen Mailwechsel beginnt und diesen dann persönlich trifft, steuert sie zielsicher auf einen Wendepunkt in ihrem in emotionslosen Konventionen erstarrten Leben zu.

„Die vierzig Geheimnisse der Liebe“ dürfte alle Kritiker der 1971 in Straßburg geborenen Elif Shafak darin bestärken, dass diese endgültig die Seiten gewechselt hat. Nichts erinnert mehr an die mutige Autorin, die sich mit ihrem Bestseller „Der Bastard von Istanbul“ (2007), der den Völkermord an den Armeniern behandelt, eine Anklage wegen „Herabsetzung des Türkentums“ einhandelte. Schon bei ihrem nächsten Buch „Der Bonbonpalast“ (2008) sah man eine Art vorbeugende Selbstzensur am Werk: Zu ästhetisch, zu verspielt, lautete das Urteil über dieses Sinnbild eines multikulturellen Istanbul.

Seit sie auch noch den Journalisten Eyüp Can Saglic heiratete, einen Kolumnisten der Tageszeitung Z/aman/, die zu der „Hizmet“-Bewegung des islamischen Predigers Fetullah Gülen gehört, zählt Shafak nicht mehr für alle türkischen Intellektuellen zu den Speerspitzen der Aufklärung am Bosporus. Dazu passt, dass die frühere Feministin, Pazifistin, Nihilistin und Anarchistin in Interviews davon schwärmt, wie sie das Spirituelle für ihr Leben entdeckt hat.

Stachel der Homoerotik

Der Tonfall von Shafaks neuer Protagonistin: mal säuselnd, mal gläubig beglückt, unterstreicht den Eindruck, Shafak wolle der orientierungslosen Mittelschicht West eine Salbe aus konfliktfreier Esoterik anbieten, um die Wunden des Materialismus zu heilen. Mit allen ideologischen Nebenwirkungen: „Wahre Kraft wurzelt in der Unterwerfung – eine Kraft, die von innen kommt. Wer sich dem göttlichen Kern des Lebens unterwirft, der lebt auch dann ruhig und gelassen, wenn die ganz große Welt in Aufruhr ist“, lässt Aziz den Derwisch Schams eine der vierzig Liebesregeln des Sufismus deklamieren. Ganz nebenbei zieht Shafak dessen legendärer Symbiose mit Rumi den Stachel der Homoerotik. Indem sie sie zur rein geistigen Beziehung verklärt. Trotzdem steckt ein brisanter Kern in dem Buch.

Nicht, dass das Liebesgebot der sufistischen Mystik in den islamischen Ländern unbekannt wäre. Oder dessen entspanntes Verhältnis zum Alkohol oder zur Sexualität. Der Leser wird Zeuge, wie Rumi sich in eine Taverne begibt und einen Krug Wein kauft. Doch so sanft und eingängig, wie Shafak das alles in „Die vierzig Geheimnisse der Liebe“ aufbereitet, macht sie die unbotmäßigen Essentials dieser Glaubensrichtung massenkompatibel. So kitschig das Buch auch daherkommen mag. In Sätzen wie dem, den Schams einmal Rumi entgegenhält, steckt nicht weniger als eine Kampfansage an die islamische Orthodoxie: „Eine religiöse Pflicht, mit deren Erfüllung man anderen das Herz bricht, ist unrecht.“

Elif Shafak: „Die vierzig Geheimnisse der Liebe“. Aus dem Engl. von Michaela Grabinger. Kein & Aber, Zürich 2013, 512 S., 22,90 Euro