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Archiv-Artikel

Frauen mit Nerven

OPER Zwei Uraufführungen, zwei Altmeister der Moderne: Das Festival „Infektion!“ hat wieder einmal versucht herauszufinden, was neues Musiktheater sein könnte, das sich von Handlung und Einfühlung verabschiedet hat

Die Sängerin soll nicht ihre Seele öffnen, sondern ihre Stimme. Sparsam, aber wirkungsvoll inszeniert

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Das Beste war die Zugabe. Wer eine Eintrittskarte für Toshio Hosokawas „Hanjo“ vorweisen konnte, durfte am späten Samstagabend in die Werkstatt des Schillertheaters umziehen und dort die Nummern 3 und 4 des fünfteiligen Zyklus „Europeras“ von John Cage anhören.

Die Belohnung war wohlverdient. Hosokawa möchte das japanische No-Theater in die Gegenwart übersetzen. Vor zwei Jahren war an der Staatsoper „Matsukaze“ zu sehen, choreografiert von Sasha Waltz, diesmal „Hanjo“, eine „Oper in sechs Szenen“ aus dem Jahr 2004, in der Inszenierung der Ruhrtriennale 2011 von Calixto Bieto. Zwei Frauen leben auf einem Eisenbahngleis, die eine ist eine verbitterte alte Jungfer, die andere eine wahnsinnige Geisha, die seit Jahren auf ihren Geliebten wartet. Die literarische Quelle ist ein Schauspiel aus den fünfziger Jahren, das einen Stoff aus dem 14. Jahrhundert aufgreift. Hosokawas Musik beschränkt sich darauf, die Stimmung dieser vereinsamten Seelen zu illustrieren. Als der Geliebte dann doch endlich kommt und ein wirklicher Mann ist, wird er bekämpft.

Was eine japanische Spielart des Existenzialismus sein könnte, verschwimmt leider in einem flauschigen Gewebe tremolierender Glissandi der Streicher. Die sehr guten Stimmen von Ingela Bohlin, Ursula Hesse von den Steinen und Georg Nigel konnten dagegen nicht viel ausrichten, und so war danach John Cage eine wirkliche Erholung.

Sechs Singstimmen, zwei Klaviere und zwölf Plattenspieler entfalten das gesamte Universum der europäischen Oper des 18. und 19. Jahrhunderts, fragmentiert und neu zusammengesetzt nach den Zufallsregeln des I Ging. Hochkonzentriert und wunderbar gesungen stand am Ende der Maßstab all dessen, was „Musiktheater“ heute sein könnte, dann doch noch fest.

Schon recht nahe kam dieser Idee dramatischer Musik, die sich radikal von Handlung und Einfühlung verabschiedet hat, Falk Richter an der Schaubühne mit „For the Disconnected Child“, seiner neuesten Exkursion in die Katastrophen des postmodernen Alltags. In Kooperation mit der Staatsoper schrieben sechs (deutsche) Komponisten und ein isländischer Singer/Songwriter Musik, die sich eher zufällig mit der Zentralfigur „Tatjana“ aus Tschaikowskis Oper „Eugen Onegin“ beschäftigen.

Die Songs und Instrumentalstücke vollkommen disparater Machart schieben sich kontrapunktisch zwischen Richters close lectures der verqueren, von Psychotherapeuten präformierten Sprache innerer Monologe von Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs. Überragend gespielt von Ursina Lardi und Luise Wolfram und unterstützt von akrobatischen Tanzeinlagen, entsteht daraus ein leichtes, ironisches Panorama der Seelenlandschaften im Zeitalter der technischen Kommunizierbarkeit.

Damit hatte das Festival großartig begonnen. Zwei Tage später ging es wieder um die Nerven einer Frau, aber gründlich daneben mit der Uraufführung „AscheMOND“. Am Anfang stand Jürgen Flimms Frage an Claus Guth, ob es möglich sei, Henry Purcells „The Fairy Queen“ zu inszenieren. Das sei es nicht, befand der Regisseur, und braute stattdessen eine bedeutungstriefende Mischung aus Originaltönen von Purcell und Variationen dieses Materials von Helmut Oehring. Zusammengehalten wird das Tableau von Tagebuchaufzeichnungen der depressiven Dichterin Sylvia Plath. Der fabelhafte Countertenor Bejun Metha durfte in diesem trüben Symboltheater wenigstens ein paar Mal echten Purcell singen und stellte damit die Zeit auf den Kopf: Nicht Oehrings Resterampe obsoleter Muster der Nachkriegsavantgarde klangen modern, sondern Purcell.

Von hier aus war der Weg überraschend kurz zu den „Recitations“ von Georges Aperghis aus dem Jahr 1978. Das sind 14 kurze Stücke für eine Sängerin alleine. Sie soll nicht ihre Seele öffnen, sondern ihre Stimme. Sparsam, aber wirkungsvoll inszeniert von Elisabeth Stöppler in der kahlen Werkstatt des Schillertheaters, lässt sich Uta Buchheister auf dieses Wagnis ein. Sie singt, atmet, spricht und pfeift sich so virtuos durch die extremen Vorschriften der Partitur, das daraus eine dramatische Person entsteht. Wieder eine Frau mit Nerven, diesmal gespannt wie die Saiten eines Instruments. Na bitte, hier geht’s also lang zum neuen Musiktheater.

■ Weitere Termine unter www.staatsoper-berlin.de