: Der riesengroße Bruder beobachtet dich
GEHEIMDIENST Neuste Enthüllung Edward Snowdens: Das britische GCHQ überwacht riesige Datenmengen
■ Nach der Enthüllung des britischen Spähprogramms nannte Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) die Affäre eine „Katastrophe“. Der Enthüllungsbericht lese sich wie das Drehbuch für einen „Albtraum à la Hollywood“.
■ Die Opposition schlug ebenfalls Alarm. „Die Vorwürfe klingen so, als ob der Überwachungsstaat von George Orwell in Großbritannien Wirklichkeit geworden ist“, sagte Thomas Oppermann (SPD).
■ Der Datenschutzbeauftragte Peter Schaar forderte eine verbindliche UN-Konvention oder als kleine Lösung ein Zusatzprotokoll, um einheitliche Regeln für Geheimdienste zu schaffen. (rtr, taz)
VON RALF SOTSCHECK
DUBLIN taz | Selbst der MI5 hatte Bedenken. Die britischen Schnüffler vom Inlandsgeheimdienst warnten 2008, dass man im Hinblick auf die Bürgerrechte möglicherweise zu weit gehe. Die Sorge bezog sich auf das Programm „Tempora“ – lateinisch für „die Zeiten“. Unter diesem Namen hat das Government Communications Headquarter (GCHQ), der Geheimdienst, der dem britischen Außenministerium untersteht, in bisher unvorstellbarem Umfang den weltweiten Telefon- und Internetverkehr ausspioniert. Im Vergleich dazu erscheint das US-Horchprogramm Prism geradezu harmlos, aber die Briten teilen ihr Überwachungsmaterial ja mit den US-Kollegen.
Der Ex-CIA-Mitarbeiter Edward Snowden hat dem britischen Guardian die Informationen über Tempora zugespielt. Er bezeichnete das Projekt als „größtes verdachtloses Überwachungsprogramm in der Geschichte der Menschheit“. Hunderte Millionen Menschen in der ganzen Welt sind davon betroffen. Seit fünf Jahren platzieren die Agenten sogenannte Buffer in den Glasfaserkabeln, die den Verkehr von und nach Großbritannien übertragen. Davon gibt es 1.500 bis 1.600 Stück. Ziel ist es, 400 dieser Kabel anzuzapfen, bis letztes Jahr waren es schon 200. Jedes dieser Kabel hat eine Kapazität von 10 Gigabyte pro Sekunde. Täglich erhalten die Schnüffler dadurch Material, dessen Umfang 192-mal so groß ist wie der Gesamtbestand der British Library – das sind immerhin rund 150 Millionen Bücher.
Das GCHQ speichert zunächst alles: Telefonate, Website-Besuche, E-Mails, Facebook- und Twitter-Aktivitäten. Ein Filter sortiert dann 30 Prozent des Materials als uninteressant aus. Der Rest wird auf Schlüsselworte durchleuchtet. Dabei macht man einen Unterschied zwischen Inhalten und Metadaten. Zu Letzteren zählen zum Beispiel Absender und Empfänger einer E-Mail sowie die ISP-Nummer, nicht aber die Betreffzeile. Der Unterschied ist wichtig, denn Metadaten dürfen 30 Tage gespeichert werden, Inhalte nur 3 Tage.
Die Schnüffler berufen sich auf ein Gesetz aus dem Jahr 2000, das die Überwachung bestimmter Zielpersonen gestattet, wenn der Innen- oder Außenminister das absegnet. Aber das Gesetz erlaubt auch eine generelle Vollmacht des Außenministers, solange sich einer der überwachten Kommunikationspartner außerhalb Großbritanniens befindet. Diese Vollmacht muss alle sechs Monate erneuert werden, aber die Kontrolle, dass sich der Geheimdienst auch an die Richtlinien hält, obliegt dem Geheimdienst. Die Ergebnisse dieser internen Untersuchungen sind ebenfalls geheim.
Als das Gesetz erlassen wurde, arbeiteten die Geheimdienste allerdings noch überwiegend mit dem physischen Anzapfen von Telefonkabeln. Das Internet war in dem Gesetz gar nicht vorgesehen, doch das GCHQ hat sich das Gesetz so zurechtgebogen, dass es auch für das neue Kommunikationszeitalter passt. Voriges Jahr versuchte die Regierung, das Gesetz zu modernisieren, um die massenhafte Speicherung von Telefon- und Internetverkehr zu ermöglichen, stieß dabei jedoch auf Widerstand. Ein Informant sagte dem Guardian, in Geheimdienstkreisen habe man die Debatte eher belustigt verfolgt. „Das GCHQ hat das doch schon seit Jahren gemacht“, sagte der Informant. Er berichtete, dass das Hauptaugenmerk auf den Themen Sicherheit, Terror, organisiertes Verbrechen und wirtschaftliches Wohl liege. Fällt unter den letzten Punkt Industriespionage?
Die Enthüllungen haben in Großbritannien nur verhaltene Reaktionen ausgelöst, obwohl man sich gerne als Mutterland der modernen Demokratie bezeichnet, die im Mittelalter mit der Magna Charta begann. Die britischen Schriftsteller Aldous Huxley und George Orwell haben schon vor über 60 Jahren Schreckensszenarien eines Überwachungsstaats entworfen, doch heutzutage ist Datenschutz wenig im Gespräch. Rund fünf Millionen Kameras überwachen die Innenstädte. Die Nation füllt jedes Jahr rund 40 Millionen Fragebögen von Marktforschungsinstituten und 54 Millionen Gutscheine für Preisnachlässe mit zum Teil sehr persönlichen Fragen aus. 80 Prozent der Briten finden, dass man solche persönliche Informationen im Dienste der Sicherheit oder der Schnäppchenjagd herausgeben müsse.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen