: „Gefangen im Monsterkäfig“
Andres Veiel über seinen Film „Der Kick“, rechte Gewalt und falsche Erklärungen
taz: Zwei junge Männer haben 2002 in Potzlow in Brandenburg scheinbar grundlos einen Bekannten bestialisch umgebracht. „Der Kick“ ist der Versuch, die Motive zu erforschen. Hat sich Ihr Bild der Tat im Laufe der Recherche verändert?
Andres Veiel: Ja. Anfangs schien mir die Tat so monströs, dass jeder Blick dahinter versperrt war. Das lag an der Tat selbst und daran, dass in den ersten zwei, drei Stunden der Quälerei Zeugen dabei waren, die nicht einschritten und später schwiegen.
Ein deutsches Motiv: eine terroristische Tat und Zuschauer, die mitschuldig werden.
Ja. Die Staatsanwaltschaft meinte, dass dem Dorf der zivilisatorische Standard fehlt. Das war auch meine Ausgangsthese. Aber das stimmt so nicht. Der Ort Potzlow ist kein einheitlicher Chor, sondern ein vielstimmiger.
Warum?
Viele Potzlower sagen, dass Täter- und Opferfamilien Zugezogene waren und man deshalb damit nichts zu tun habe. Aber es gibt auch andere, die sagen: Nein, es ist bei uns passiert. Wir müssen uns damit befassen. Ich wollte in dem Chor die Einzelstimmen wieder hörbar machen.
Hat sich auch Ihr Blick auf die Motive verändert?
Es gibt bei solchen Taten oft auch Gewalt in den Familien, Missbrauch, Alkoholismus, Demütigungen. Doch bei den Eltern der Täter Marcel und Marko trifft das nicht zu. Eine Spur zu Traumatisierungen gibt es über den Großvater, der ansehen musste, wie seine Eltern im Krieg stranguliert wurden, und das erst am Totenbett dem Vater erzählen konnte. Das ist keine Kette von Ursache und Wirkung, aber gerade Verschwiegenes arbeitet in Familien ja weiter.
Die Täter zwingen ihr Opfer, sich Jude zu nennen. Ist Neonazismus der Schlüssel zur Tat?
Eher nicht. Das sind Versatzstücke. Jude war das Synonym für: Das sind keine Menschen, das sind Tiere, auf die man draufpinkeln kann. Das war die zweite Eskalationsstufe. Die erste war: Der Ausschluss von Marinus aus der Männerkaste, weil er keinen Schnaps verträgt.
Die dokumentarischen Texte der beiden Schauspieler in „Der Kick“ legen verschiedene Motivstränge frei: eine fast allgemeine Fremdenfeindlichkeit im Ort. Und die Gewalterfahrung der Täter dort. Das Stück schafft aber keine Hierarchie dieser Motive. Es läuft nicht auf ein Zentralmotiv, eine Erklärung zu. Warum nicht?
Ich glaube, es gibt keinen Schlüssel. Die Tat war auch nicht zwingend. Nachdem sie Marinus zwei Stunden gequält hatten, waren die Täter schon auf dem Weg nach Hause. Dann kehren sie um, und einer von ihnen tötet ihn. Da ist Zufall im Spiel. Wenn es ein Kernmotiv gibt, dann ist es der Machtrausch, jemanden zu demütigen. Und wie Marcel selbst gesagt hat, der Kick, jemanden den Schädel zu zertrümmern.
Jörg Schönbohm hat versucht, Gewalt im Osten mit der Entbürgerlichung und Entchristlichung in der DDR zu erklären. Funktioniert das?
Nein, so pauschale Ansätze retuschieren immer mehr weg, als sie erklären. Schönbohm zielte auf den Fall einer Frau in Frankfurt (Oder), die ihre neun Babys getötet hat. Aber diese Frau kam aus einem christlichen Elternhaus. Außerdem gab es in der DDR-Gesellschaft, bei aller Entbürgerlichung, den heute oft nostalgisch verklärten Zusammenhang der Mangelgesellschaft. Weil immer allen etwas fehlte, war man aufeinander angewiesen – gleichzeitig gab es die Konkurrenz nicht, die im Westen so mächtig ist. Lässt man die politische Repression mal beiseite, gab es viel Sicherheit und Zusammenhalt …
… der 1990 zerbricht.
Ja. Das betrifft vor allem die Generation, die damals zwischen 30 und 45 ist und nicht mehr gebraucht wird. Die Kinder spüren diese Verunsicherung und wissen nicht, wie sie sich identifizieren sollen.
Als Hintergrundmotiv spielt die Post-Wende-Unsicherheit also eine größere Rolle als leere Kirchen?
Ja. Einen Sinnverlust gibt es eher für die Zeit nach 1990. Ich habe bei vielen in Potzlow eine typische Trotzhaltung gegen den Westen gespürt. Einer hat mal gesagt: „Wenn jemand zusammengeschlagen wird, greife ich nicht ein.“ Das hieß übersetzt: Die kläglichen Wertereste von Zivilcourage, die ihr uns neben eurer gnadenlosen Konkurrenz verordnen wollt, könnt ihr behalten.
Die Texte sind nicht nur Versuche, Motive zu beschrieben. Sie zeigen die Figuren auch als leidende Kreatur: nicht nur die Mutter der Opfers, auch die Täter selbst. Sie zeigen sogar die Perspektive der Freundin eines Täters, die ihn liebt. Warum?
Weil viele dazu neigen, die Täter in den Monsterkäfig zu sperren. Wenn man hört, wie fast bedingungslos Sandra Marko liebt, wird das schwieriger.
Warum haben Sie Ihr Theaterstück auch noch verfilmt?
Banale Antwort: Weil nicht so viele Leute ins Theater gehen.
Und die komplizierte?
Im Theater inszeniert man nur Totalen. Man schafft eine Spannung über die Distanz der Schauspieler. Mit der Kamera kann ich Nuancen der Mimik zeigen. Was ich gar nicht wollte, war theatrale Gestaltung. Ich wollte die Konzentration auf den Text. Viele Szenen im Film sind um vier Uhr morgens entstanden. Da waren die Schauspieler zu müde, um noch zu spielen. Dieses Zurückgenommene wollte ich.
Dem Film fehlt aber die unmittelbare Präsenz des Theaters. Was fügt das Medium Film dem Stück hinzu?
Einen anderen Rhythmus. Wir haben Texte viel mehr gegeneinander montiert. Und es wird mehr geschwiegen. Das Schweigen funktioniert im Theater nicht, zumindest nicht bei einem Stück ohne Psychologie. Im Film schon. Weil man näher an die Gesichter rücken kann.
INTERVIEW: STEFAN REINECKE