: Das ist mehr Dorf als Stadt
STÄDTEBAU Den 100. Geburtstag darf die Genossenschaft der Gartenstadt Staaken am Donnerstag feiern. Viel wichtiger ist dem Vorstand allerdings, die Wohnanlage im Westen Spandaus fit für die weitere Zukunft zu machen
■ Bewegung: Die Idee der Gartenstadt, die die strikte Trennung von Stadt und Land aufheben sollte, wurde in England um die Wende zum 20. Jahrhundert diskutiert. In Deutschland gründete sich 1902 die Deutsche Gartenstadt-Gesellschaft. Das erste gebaute Beispiel ist die Gartenstadt Hellerau in Dresden. Sie wurde ab 1909 gebaut. Ein weiteres Beispiel ist die Margarethenhöhe in Essen.
■ Berlin: Noch vor der Gartenstadt Staaken wurde 1912 in Berlin mit dem Bau der Gartenstadt Falkenberg begonnen. Architekt war Bruno Taut. Seit 2008 ist sie Welterbe der Unesco.
■ Spandau: Die Gartenstadt Staaken hat 1.000 Wohnungen und wurde von 1914 bis 1917 von Paul Schmitthenner gebaut. Sie liegt rund um den Heidebergweg im Westen Spandaus an der Grenze zu Brandenburg.
■ Kritik: Die Nationalsozialisten haben versucht, die Gartenstadt-Bewegung für sich zu vereinnahmen. Dennoch verstanden sich die meisten Gartenstadt-Architekten als fortschrittlich. (wera)
VON UWE RADA
„Nur anständig und wahrhaftig soll alles sein. Nicht mehr hermachen, als man ist. Auch bei Menschen wirkt das übel und unanständig.“ Paul Schmitthenner hatte nicht nur einen ästhetischen Grundsatz, er durfte ihn auch bauen. 1913 wurde der erst 29-Jährige mit dem Bau der Gartenstadt Staaken im Westen Spandaus beauftragt. Es war seine Feuertaufe als Architekt. Am 27. Juni wird die Genossenschaft, der die Gartenstadt Staaken gehört, hundert Jahre alt.
Wer heute durch den Torweg, Am Heideberg oder durch die Gasse „Zwischen den Giebeln“ schlendert, spürt etwas von der Aufbruchstimmung, die Schmitthenner vor hundert Jahren erfasst haben mag. Einfamilienreihenhäuser und Geschossbauten für vier Familien wechseln sich ab. Am Markt gab es ein Kaufhaus, in dem heute ein Friseur, ein Bäcker und ein Geschäft für Modelleisenbahnen Kunden locken. Ohne Schnörkel waren auch die Wohnungen selbst, wie Schmitthenner 1920 in seinem Aufsatz „Die deutsche Volkswohnung“ schrieb: „Schaut euch doch die Wohnungen Schillers an und das Gartenhaus Goethes in Weimar. Dort habt ihr größte Einfachheit und höchste Kultur.“
Ein Jahr nach der Gründung der Genossenschaft konnte Schmitthenner mit dem Bau beginnen. Die zwischen 1914 und 1917 aus dem Boden gestampfte Gartenstadt in Staaken ist damit eines der ersten Projekte des Reformwohnungsbaus in Berlin. Und sie ist, sagt der Architekturhistoriker Karl Kiem, Vorbild für den Siedlungsbau in der Weimarer Republik gewesen.
In die Jahre gekommen
„Nicht mehr hermachen, als man ist“: Für Raik Hirsch hat dieser Satz von Schmitthenner auch einen bitteren Beigeschmack. Hirsch ist im Vorstand der „Gartenstadt Staaken eG“ und hat den Job übernommen, eine Siedlung mit 1.000 Wohnungen, die in die Jahre gekommen ist, zukunftsfähig zu machen. „Eine schwierige Aufgabe“, sagt der Ostberliner, der erst vor drei Jahren nach Staaken gekommen ist. „Ich bin nicht nur der erste Ostler, der im Vorstand der Genossenschaft ist“, scherzt er, „ich bin auch der Erste, der nicht aus Spandau kommt.“
Vielleicht ist einer von außen aber genau der Richtige für so eine Herkulesaufgabe. Bis zum Ende der Teilung Berlins war die Gartenstadt mit dem Rücken zur Mauer gelegen, Zonenrandgebiet in Westberlin. Investiert wurde nur wenig und wenn, dann bauten die Bewohner in Eigenregie neue Fenster oder eine Gasetagenheizung ein. Den letzten großen Modernisierungsschub in Eigenregie gab es, als bekannt wurde, dass die Siedlung 1986 unter Denkmalschutz gestellt werden sollte.
Entsprechend niedrig sind heute die Mieten, weiß Hirsch. „Wir haben in der Gartenstadt eine Durchschnittsmiete von etwa 3,80 Euro pro Quadratmeter netto kalt.“ Das ist nicht nur für Berliner Verhältnisse preisgünstig. Selbst der Spandauer Schnitt liegt mit unter sechs Euro deutlich darüber. Was die einen freut, ist für Hirsch ein Problem. „Wir haben hier eine gute soziale Mischung“, sagt Hirsch, „die wollen wir auch behalten.“ Auf der anderen Seite müsse in Staaken aber endlich die Modernisierung beginnen. „Wir wollen nicht auf Substanz leben“, betont er, und weiß: „Das bringt für manche auch tiefe Einschnitte mit sich.“
Es war die Wohnungsnot im Berlin der Kaiserzeit, die den Bau der Gartenstadt als Genossenschaftsprojekt möglich machte. Allerdings war die Genossenschaft, die am 27. Juni 1913 im Spandauer Stadtteil Haselhorst gegründet wurde, kein Projekt von unten. Initiiert wurde sie vom Reichsinnenministerium. Auslöser für diese Reform von oben waren die Erfahrungen mit dem Bau der Gartenstadt Falkenberg und der Deutschen Gartenstadtgesellschaft, schreibt Karl Kiem in seinem Buch über die Gartenstadt Staaken: „Die Falkenberger Siedler wehren sich gegen die Gesellschaft von Staatsbeamten, von deren Unterbringung in der Siedlung das Innenministerium die Kreditvergabe abhängig machte.“
Da schien die Gründung einer dem Ministerium genehmen Genossenschaft dem Staat lohnender – zumal in Staaken vor allem Arbeiter der staatlichen Spandauer Rüstungsbetriebe untergebracht werden sollten. Die später als so fortschrittlich gepriesene Gartenstadt war also ein Staatsprojekt, mit dem die traditionell schlecht bezahlten Arbeiter der Rüstungsindustrie ruhiggestellt werden sollten. Auch die Tatsache, dass der Bau nach Kriegsbeginn 1914 ohne große Verzögerungen fortgesetzt werden konnte, hatte die Gartenstadt dem Einfluss der Rüstungsindustrie zu verdanken.
Die Entstehungsgeschichte ist in Staaken heute nicht so präsent. „Offiziell feiert die Genossenschaft nicht ihre Gründung, sondern den Bezug der ersten Wohnungen 1914“, sagt Bernd Geue. Geue leitet den „Unterstützungsverein Gartenstadt Staaken“, der im Feuerwehrgebäude von 1924 auch einen Bürgertreff unterhält. „Wer hier wohnt, muss hier geboren sein“, weiß Geue. „Eng auf eng ist es hier, da muss man sich kennen. Das ist mehr Dorf als Stadt.“
Geue selbst ist 1952 in der Gartenstadt geboren. „Ich wollte nie weg, das ist hier etwas Besonderes.“ Eine gemeinsame Identität der Bewohner vermisst er freilich. „Die Alten kümmern sich um ihren Garten, die Jungen lassen ihn verkommen, da gibt es viele Konflikte.“
Sprung in die Zukunft
PAUL SCHMITTHENNER, ARCHITEKT DER GARTENSTADT STAAKEN
Keine gute Aussichten für den Sprung in die Zukunft. Dass in Staaken endlich etwas unternommen werden muss, findet aber auch Bernd Geue. Deshalb freut er sich über den runden Geburtstag. Ein Kinderfest wird sein Verein organisieren, wenn nächstes Jahr offiziell Geburtstag gefeiert wird. Kein kleines wie jedes Jahr, sondern eine Nummer größer. „Vielleicht stellt sich dann bei den Bewohnern ein Wir-Gefühl ein“, hofft er.
Vorstand Raik Hirsch blickt nicht nur aufs nächste Jahr, sondern darüber hinaus. „Wir müssen nicht nur modernisieren, wir müssen auch die Genossenschaft auf sichere Beine stellen“, betont er und erinnert an das Jahr 2000. Damals lief der Erbpachtvertrag, den das Deutsche Reich mit der Genossenschaft abgeschlossen hatte, aus. „Die Oberfinanzdirektion, der das Grundstück nach der Wiedervereinigung gehörte, wollte plötzlich das Sechzigfache des Pachtpreises.“ Kurzerhand entschloss sich der Aufsichtsrat, das Grundstück für 6,5 Millionen Euro zu kaufen. Keine einfache Sache für eine kleine Genossenschaft, die nicht einmal Fördermittel vom Bund oder vom Land bekommt.
„Als Genossenschaft geht es uns nicht um Profite“, versichert Hirsch, „aber wir müssen auch wirtschaftlich arbeiten.“ Nicht jeder Bewohner stimmt da zu. „Als es an der Maulbeerallee seit 17 Jahren die erste Mieterhöhung gab, gab es unvorstellbare Diskussionen“, erinnert sich Hirsch.
Demgegenüber stünden jene Mieter, die von der Genossenschaft einen zeitgemäßen Standard fordern. „Das ist hier oft noch ein gallisches Dorf“, sagt Hirsch, „deshalb wollen wir uns auch Leuten von außen öffnen.“ Bislang sei es in Staaken üblich, dass die Wohnungen an die Kinder und Enkel weitergegeben werden. „Aber wir brauchen auch etwas frischen Wind von außen“, sagt der Vorstand, der selbst von außen kommt.
Ordentlich wirtschaften, das war auch die Devise von Paul Schmitthenner. Um die Baupreise zu senken, entwarf der Architekt eine Art Baukastenprinzip. So kommt die Gartenstadt heute mit nur fünf Haustypen aus, darunter auch Einfamilienhäusern mit besonders großem Garten. Dass in Staaken für die Arbeiter der Rüstungsindustrie gebaut wurde, hat Schmitthenner nicht geholfen. 1917 wurde er eingezogen und verbrachte den Rest des Ersten Weltkrieges an der Front.