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Archiv-Artikel

Die perfekte Inszenierung nach außen

Vor dem Hamburger Landgericht muss sich ein Paar wegen fahrlässiger Tötung ihrer zweijährigen Tochter und schwerer Vernachlässigung ihrer anderen Kinder verantworten. Regelmäßig besucht wurde die Familie von Sozialarbeitern – die aber haben nichts bemerkt. Heute folgen die Abschlussplädoyers

Keines der Kinder war annähernd altersgerecht entwickelt, selbst die Älteren konnten kaum laufen und sprechen

Von Elke Spanner

Mitte März erwartet Nicole G. ihr siebtes Kind. Die Mutter beteuert, in „froher Hoffnung“ zu sein. Auf den Fluren des Hamburger Landgerichtes aber wird über Sorgerechtsentzug, Pflegefamilien und erzwungene Adoptionsfreigabe diskutiert. Denn ehe Nicole G. wieder schwanger wurde, hat sie sechsmal als Mutter versagt. Eines ihrer Kinder hat das sogar das Leben gekostet, die Eltern sind der fahrlässigen Tötung ihrer Tochter Michelle angeklagt. Inzwischen ist die Familie aufgelöst, alle Kinder leben im Heim. Nun versuchen Nicole G. und ihr Mann einen Neuanfang mit einem neuen Kind. Haben sie dazu ein Recht?

Die zweijährige Michelle starb im August 2004 an einem Hirnödem. Trotz einer schweren Mandelentzündung ließen die Eltern sie an die 24 Stunden unbeaufsichtigt. Auch einen Arzt alarmierten sie nicht. Ihre Schwester Laura, mit Michelle im Zimmer eingesperrt, musste deren Sterben mit ansehen, aber das ist nur ein Detail des Traumas, das die Geschwister in der Dreizimmerwohnung in Hamburg-Lohbrügge erlebten.

Nicole G. und Andreas J. kommen Händchen haltend zum Hamburger Landgericht. Er ist lang und hager. Der 35-Jährige blickt schüchtern durch die metallumrandete Brille, auch im Gespräch mit seiner Frau. Sie hat in der Beziehung die Hosen an. Die 28-Jährige ist auch körperlich sein Gegenstück, klein und kräftig ist ihre Statur. Passt ihr eine Bemerkung oder Frage nicht, wehrt sie diese mit einer schnippischen Erwiderung ab. Zuhause flieht er dann vor seinen Computer, das hat er schon getan, als er dort noch sechs Kinder zu betreuen hatte. Sie war dann genervt, forderte aber nicht seine Beteiligung ein, sondern überließ die Kinder eben sich selbst. „Bei ihr hat sich eine fatalistisch-depressive Grundstimmung entwickelt“, stellte der psychologische Gutachter fest. „Mit jedem Kind war sie mehr überfordert. Die Aggression gegen ihre Kinder hat sich in Untätigkeit geäußert.“

Nicole G. und Andreas J. haben sich immer eine große Familie gewünscht. Sie ist in einem schwierigen sozialen Milieu aufgewachsen und wollte selbst alles besser machen. Der Gerichtspsychologe sagt, Nicole G. habe versucht, ihr Idealbild einer liebenden Mutter mit „kleinen, knuddeligen Kindern zu leben“. Der erste Sohn wurde geboren, da war Nicole G. gerade Anfang zwanzig. Jedes Jahr bekam sie ein weiteres Baby, in einem Jahr sogar zwei. Jedes Kind brachte sie ihrem Ziel einer großen Traumfamilie näher und entfernte sie gleichzeitig immer weiter davon.

Der Vater war als Altenpfleger ganztags außer Haus, die Mutter mit den Kindern allein. Dem anfänglichen Gefühl, mancher Situation nicht gewachsen zu sein, folgte irgendwann die Kapitulation. Die Klinken an den Türen zu den Kinderzimmern wurden abgeschraubt, „irgendwann war der Punkt erreicht, wo die Eltern versucht haben, sich vor ihren Kindern zu schützen“, sagte eine Gutachterin.

Geputzt wurde die Wohnung nicht mehr, gegen Unordnung und Dreck kam sie ohnehin nicht mehr an. Keines der Kinder wusste, dass aus einer Dusche Wasser kommt, auch Zahnbürsten kannten sie nicht. Die Wohnung verlassen haben sie fast nie, wie soll man sechs Kinder zusammen transportieren? Als sie ins Heim kamen, konnte selbst der sechsjährige Leon kaum sprechen und laufen. Alltagsgegenstände wie Auto oder Baum kannte er nicht. Mit offenem Mund blieb er stehen, als er eine S-Bahn vorüberfahren sah – offenkundig zum ersten Mal. „Dass es so etwas gibt“, sagte die Psychologin, die die Kinder eingangs untersucht hat, „wusste er nicht.“

Nicole G. muss gesehen haben, wie ihre Kinder körperlich und seelisch verwahrlosten. Die 28-Jährige ist gelernte Altenpflegerin und macht einen „patenten Eindruck“, wie die Gutachterin bestätigt. Doch eingestanden hat sie sich das nicht. Hilfe anzunehmen, scheint für viele Eltern ein Eingeständnis des eigenen Scheiterns zu sein, das hat schon der Fall der verhungerten Jessica aus Hamburg-Jenfeld gezeigt. Auch deren Mutter hatte von einer heilen Familie geträumt. Drei Kinder waren ihr vor Jessicas Geburt schon wegen schwerer Vernachlässigung weggenommen worden. Die hat sie dann noch mehr gequält als sie selbst es als Kind erleben musste. Statt sich Unterstützung zu suchen, hat sie Jessica vor der Außenwelt versteckt und in ihrem Zimmer schließlich qualvoll verhungern lassen. Sie habe einmal daran gedacht, Hilfe zu holen, räumte Mutter Marlies Sch. in ihrem Prozess ein. Irgendwie aber habe sie das „nicht geschafft“.

Die Eltern von Michelle haben verleugnet, mit ihren sechs Kindern überfordert zu sein – vor sich und auch vor den Behörden, die irgendwann auf die Familie aufmerksam wurden. Als die Polizei nach Michelles Tod in die völlig verdreckte Wohnung der Familie kam, hielt der Vater dem Vorwurf der Misshandlung entgegen: „Aber wir schlagen unsere Kinder nicht.“ Die Psychologin, die die Kinder bei deren Einzug im Heim untersuchte, berichtete über „zahlreiche, vielfältige und tiefgreifende Schäden“. Keines der Kinder war annähernd altersgerecht entwickelt, selbst die Älteren konnten kaum laufen und sprechen. Und dennoch doziert Nicole G. vor Gericht, ihre Söhne und Töchter seien nicht im Kindergarten gewesen, weil „Kinder in den ersten Jahren zur Mutter gehören. Da lernen sie am meisten“.

Dass sie es aushielt, ihre Söhne und Töchter in derart erbarmungswürdigem Zustand zu sehen, erklärt die Psychologin mit der „mangelnden Fähigkeit der Mutter, Mitgefühl für andere zu entwickeln“. Die innere Härte gepaart mit dem Verlangen, am Wunschbild der glücklichen Familie festzuhalten, führte zu einer Inszenierung bürgerlichen Familienlebens, auf die selbst die in der Familie tätigen Sozialarbeiter hereingefallen sind.

Das Jugendamt wurde auf die Familie aufmerksam, als die wegen Mietschulden aus der Wohnung geräumt werden sollte. Damals regelte die Behörde mit dem Sozialamt, dass dieses die Mietrückstände übernimmt, und stellte selbst „Hilfe zur Erziehung“ bereit. Zweimal die Woche kam fortan eine Sozialarbeiterin. Für 6,5 Stunden war sie allwöchentlich in der Wohnung, plauderte mit der Mutter – und glaubte deren Erzählungen. Natürlich werde sie ihre Kinder nun bei einer Krankenkasse anmelden, habe sie beteuert. Und den Gutschein für den Kindergarten werde ihr Mann gleich beim Jugendamt abholen, er sei schon unterwegs. Überprüft hatte die Pädagogin die Angaben nicht, schließlich sei Nicole G. immer so „freundlich und kooperativ“ gewesen, sagte sie in einer Vernehmung der Polizei. „Sozialarbeiter sehen in erster Linie ihre Beziehungsarbeit und glauben: Wenn die stimmt, regelt sich alles von selbst“, bestätigte eine Juristin des zuständigen Bezirksamtes vor Gericht. Und räumte ein: „Das Verhältnis zwischen Glauben und Kontrolle hat hier nicht gestimmt.“

Offenbar hatte Nicole G. das Wohnzimmer aufgeräumt, wenn die Sozialarbeiterin kam. Einzelne Kinder hatte sie vorher ausnahmsweise gewaschen, die übrigen, behauptete sie, würden schlafen. Deshalb hatte die Pädagogin nicht in die Kinderzimmer geschaut, in denen die Wände voller Kot, der Boden voller Unrat und überall Fliegen waren. „Ich war nie in den Kinderzimmern“, gestand die Familienhelferin der Polizei. Und schaffte Nicole G. den Aufwand der Inszenierung einmal nicht, sagte sie den Termin einfach ab, eine kurze SMS, und sie hatte ihre Ruhe. Misstrauisch wurde die Sozialarbeiterin nicht einmal, als irgendwann mehr als die Hälfte der Termine nicht zustande kam.

Kontrolle ist in Zusammenhang mit Sozialarbeit ein umstrittenes Wort. Durch Fälle wie diesen gewinnen die Befürworter stärkerer Kontrolle gute Argumente. Die Familienhelferin hat sogar in den Akten festgehalten, dass sie Nicole G.„geduldig und liebevoll mit ihren Kindern erlebt“– nicht ahnend, dass die Stunden ihres Besuches offenbar die einzigen waren, in denen die Mutter sich überhaupt um die Kinder kümmerte. In einem Vermerk drückte sie ihre Verwunderung darüber aus, „wie die Mutter trotz allem alles im Griff hat“.

Als der Vermerk gefertigt wurde, konnte von einem kindgerechten Leben der Geschwister schon lange keine Rede mehr sein. Mindestens 18 Monate vor Michelles Tod, urteilte die psychologische Gutachterin, war der Zustand der Kinder „katastrophal“. Der Fall war „in seiner Dramatik außergewöhnlich – selbst wenn man den Tod von Michelle außer Betracht lässt“. Warum die Sozialarbeiterin das alles nicht sah? „Heute“, ließ sie über die Juristin des Bezirksamtes ausrichten, könne sie sich das „auch nicht mehr erklären.“

Selbst ausgesagt hat die Familienhelferin vor Gericht nicht. Sie könnte sich selbst damit belasten, und das gibt ihr das Recht zur Aussageverweigerung. Die Staatsanwaltschaft ermittelt inzwischen gegen sie und zwei weitere Mitarbeiter der Jugendhilfe, die von den Zuständen in der Familie gewusst und nicht gehandelt haben sollen.

Die Inszenierung konnte nur gelingen, weil Nicole G. weiß, welches soziale Verhalten von einer Mutter erwünscht ist. Sie kennt die Normen und passte sich diesen nach außen hin an. Gegenüber einer Psychologin sagte sie einmal: „Ich weiß, dass ich mich schämen sollte.“ Dass sie sich schämt, sagte sie nicht.