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Archiv-Artikel

Zwischen wildem Westen und nahem Osten

Hennig Scherf und die Schweizer Politikerin Gret Haller diskutierten über Europa und die Fundamentalismen

Von abe

Bremen taz ■ Gret Haller wollte sich ja eigentlich des Urteils über die beiden Mentalitäten enthalten. Und trotzdem: „Europa hat die Auserwähltheit hinter sich gelassen.“ Und: „Ich habe Angst, dass Europa das US-Gesellschaftsmodell übernimmt.“ Also weniger Staat, dafür mehr Nation, Moral und Religion. Wenn das nicht heißt: „Vorsicht – Rutschgefahr in die Steinzeit“, was dann?

Die ehemalige Schweizer Parlamentspräsidentin und Botschafterin beim Europarat diskutierte in der Zentralbibliothek ihre Thesen zum Fundamentalismus in Amerika, der arabischen Welt und anderswo mit Altbürgermeister Henning Scherf. Der gab den aufgeschlossenen Multikulti-Touristen: berichtete von Begegnungen in den kulturellen „melting pots“ der USA, lobte die Pluralität der Gesellschaft und rief zum Dialog mit den kritischen Geistern auf. Schnell war klar, dass beide Diskutanten auf verschiedenen Feldern argumentieren: Scherf als Volk-aufs-Maul-Schauer und Tagespolitiker, Haller – weit fatalistischer – aus theoretisch-historischer Perspektive.

Den „kulturellen“ (nicht religiösen) Fundamentalismus der USA führt sie auf die Puritaner und anderen Ur-Einwanderer zurück, die sich in der neuen Welt nicht durch einen Staat, sondern durch ihre Religion definierten. Wer am Gemeinwesen partizipieren wollte, musste sich einer Religionsgemeinschaft zuordnen und so viel moralische Integrität mitbringen, dass die Gemeinde ihn akzeptierte.

Diese Mentalität sei Nährboden eines Fundamentalismus, der sich anmaßt, andere als „Schurkenstaaten“ oder Rädchen an der Achse des Bösen abzuurteilen. Hier erblickt Gret Haller die fundamentale Demütigung nicht nur für Muslime, sondern auch für Europäer. Sie verlangt, dass sich europäische Regierungen hiervon distanzieren, um die Wutwelle in der islamischen Welt zu beschwichtigen. Scherf versucht noch, die Debatte zu erden und Schröders Reaktion auf den Irakkrieg in den Blick zu rücken. Doch Haller genügt das nicht: Gerade jetzt, wo die Position der Amerikaner im Irak geschwächt sei, täte Nachtreten not.

Zwischen wildem Westen und nahem Osten, kulturellem und religiösem Fundamentalismus – bleibt da Europa die letzte Bastion der Rationalität? Gret Haller sieht keine Fundamentalismusgefahr in Europa. Bloß religiöse Schmuse-Events, die der Politik die Show stehlen. Wenn der Papst kommt oder abtritt, lenke das die Leute von den eigentlichen Problemen ab. Ein Zuhörer meldet sich zu Wort. Als Atheist fühle er sich inzwischen an den Rand der Debatte gedrängt. Scherf winkt ab: „Wenn du mal in einen Gottesdienst gehen würdest, wüsstest du, wer wirklich marginalisiert ist. Da sitzen zehn Leute, davon sind acht schwerhörig.“ abe