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Archiv-Artikel

„Fälschungen sind nur ein Instrument“

Mitte März wird in Weißrussland ein neuer Präsident gewählt. Der Sieger steht bereits fest: Alexander Lukaschenko bleibt im Amt. Dafür sorgen Manipulationen und der Segen aus Moskau, meint der Oppositionsführer Anatoli Lebedko

taz: Am 19. März finden in Weißrussland vorgezogene Präsidentschaftswahlen statt …

Anatoli Lebedko: Moment, wir müssen uns erst einmal über die Terminologie verständigen. Das Wort „Wahlen“ ruft bei den Lesern in Westeuropa eine bestimmte Assoziation hervor. Wahlen erfordern die Verfügbarkeit von objektiven Informationen über die Teilnehmer des Wahlprozesses, und die haben einen gleichberechtigten Zugang zu den Massenmedien. In den Wahlkommissionen müssen Vertreter unterschiedlicher politischer Kräfte sitzen. Nichts davon trifft auf Weißrussland zu.

Was erwarten Sie unter den gegebenen Umständen?

Das Regime hat schon ein Szenario vorbereitet: die gewaltsame Aufrechterhaltung der Macht. Fälschungen sind nur ein Instrument, aber die Stimmen werden überhaupt nicht gezählt werden. Selbst wenn Lukaschenko überhaupt keinen Rückhalt in der Bevölkerung hätte, würde er die Anzahl von Stimmen erhalten, die er für notwendig erachtet. Der Plan lautet: 75 Prozent für Lukaschenko.

Das war bei früheren Wahlen unter Lukaschenko genauso. Deshalb hat die Opposition einmal die Parlamentswahlen boykottiert. Diesmal haben Sie mit Alexander Milinkewitsch einen gemeinsamen, alternativen Kandidaten aufgestellt. Wie sieht Ihre Strategie aus?

Wir gehen von Haus zu Haus und tragen den Menschen unsere Argumente vor. Eine andere Chance haben wir nicht.

Woher nehmen Sie den Optimismus, die Menschen mobilisieren zu können?

60 Prozent wollen Veränderungen. Wir behaupten nicht, dass alle diese Menschen demokratische Werte verinnerlicht hätten. Deren Zahl liegt bei 30 Prozent. Doch die anderen 30 Prozent sind mit der Situation unzufrieden und vom Regime enttäuscht. Dieses Potenzial können wir zu uns herüberziehen. Auch ein weiterer Wert gibt Anlass zu Optimismus: 16 Prozent haben erklärt, dass sie unter bestimmten Bedingungen bereit wären, auf die Straße zu gehen. 16 Prozent, das wären rund 1 Million. Wenn wir einen Weg in die Seelen dieser Menschen finden, ist die Chance groß, dass sie für ihre Wahl auch kämpfen.

Nehmen wir an, die Million geht auf die Straße. Glauben Sie, dass die Einsatzkräfte schießen werden?

Lukaschenko macht eine Politik, die Weißrussland eher auf den rumänischen als den ukrainischen Weg führt. Er ist der Kapitän auf der Brücke, der seinen Landsleuten mit absoluter Missachtung begegnet. Das provoziert bei den Menschen Abscheu gegen das Regime. Doch letztendlich geht es nicht darum, was Lukaschenko will oder wir uns wünschen. Alles wird von der Anzahl der Menschen abhängen, die auf die Straße gehen werden. Wenn es sehr viele sein werden, ist das eine Art von Garantie, dass alles ruhig und friedlich verlaufen wird. Wenn nicht, schließe ich die Möglichkeit gewaltsamer Zusammenstöße nicht aus.

In der Ukraine hat sich Russland ganz offen eingemischt. Was heißt das für Weißrussland?

Der russische Faktor ist präsent, vor allem durch die Abhängigkeit der weißrussischen Wirtschaft von Moskau. Die Beziehung ist schwierig. Putin mag Lukaschenko nicht und Lukaschenko Putin nicht. Aber noch weniger mag der Kreml die orangene Revolution. Lukaschenko nutzt diese Situation aus. Der Kreml setzt darauf, dass Lukaschenko notfalls mit dem Einsatz von Gewalt das Eindringen der Revolution von Weißrussland aus nach Russland verhindert. Wäre die Situation anders, hätte er nicht 3 Milliarden Dollar erhalten. Das ist der Gewinn, den Lukaschenko aufgrund der unterschiedlichen Energiepreise einstreicht.

Heißt das, dass Moskau im Wahlkampf Lukaschenko unterstützen wird, so wie den letztlich gescheiterten Kandidaten Wiktor Janukowitsch in der Ukraine?

Putin und der Kreml hätten lieber eine andere Person an der Spitze Weißrusslands, jemanden, der prorussisch ist. Dennoch wird Moskau in naher Zukunft Milinkewitsch nicht unterstützen. Wenn jedoch die Zustimmung zu Milinkewitsch weiter steigt, ist das ein Faktor, den der Kreml nicht ignorieren kann. So zynisch wie in der Ukraine wird Russland auf keinen Fall agieren und wir können zumindest öffentlich auf die Neutralität Moskaus zählen. Das wäre für uns schon ein innenpolitischer Sieg.

Sie haben jetzt Gespräche in Brüssel und Straßburg geführt. Als in der Ukraine die Orangene Revolution begann, war Europa völlig unvorbereitet. Ist das im Falle Weißrusslands anders, gibt es eine Strategie?

Gestern war die Strategie Europas das Fehlen jeglicher Strategie. Heute ist der politische Wille spürbar, eine solche Strategie und einen konkreten Aktionsplan zu erarbeiten. Bei unseren Treffen haben wir nicht darüber gesprochen, wie Lukaschenko von der Macht entfernt werden, sondern wie Weißrussland auf den Weg zur Demokratie geführt werden kann. Diese Frage muss im Zentrum der Strategie stehen. Dafür ist es aber notwendig anzuerkennen, dass die weißrussische Frage nicht nur eine rein weißrussische ist. Sie muss zu einer der europäischen Prioritäten werden. Wenn Iran für ein Europa ein großer Schmerz ist und der Irak Verantwortung, dann ist Weißrussland für die Europäische Union das Gewissen.INTERVIEW: BARBARA OERTEL