: Im engsten Kreise
AUS WUPPERTALHEIKE HAARHOFF
In einer Praxis für Physiotherapie in Wuppertal sitzen 19 Erwachsene im Stuhlkreis. Ihre Straßenschuhe haben sie gegen Gesundheitslatschen oder dicke Wollsocken getauscht. Sie stellen die Beine parallel zueinander, sie kreuzen die Arme vor der Brust und haben die Hände unter ihre Achseln gesteckt, viele halten die Augen geschlossen.
Barbara Bradt, 63 Jahre, die Inhaberin der Praxis, sagt, dass alle jetzt über ihre Füße einatmen. Dass sie spüren, wie der Atem über den Rücken nach oben kommt. Dass sie über die Schädelbasis ausatmen, und zwar 36-mal in Folge. So schreibt es die Entspannungsübung aus Asien vor, die zum Eingangszeremoniell des Gruppentreffens von Artabana gehört. „Lasst alles los, was euch belastet“, ruft Barbara Bradt. Die Runde pariert die Aufforderung mit schwerem Schnaufen.
Loslassen, was einen belastet. Das ist leichter gesagt als getan, wenn man zwar freiwillig aus dem herkömmlichen Krankenversicherungssystem ausgetreten ist, aber seither darüber rätselt, ob und wann der Schöpfer einem die nächste Ohrenentzündung, den nächsten Beinbruch, oder, schlimmer noch, Diabetes oder Krebs schicken wird. Krankheiten, deren Behandlung man ab sofort selbst wird bezahlen müssen, egal, ob man sie sich leisten kann oder nicht.
Deswegen sitzen die 19 hier. Architekten, Heilpraktiker, Rentner, Landschaftsökologen und Elektriker, die 36-mal über die Füße ein- und über die Schädelbasis ausatmen und trotzdem weder wie Sektierer noch spirituelle Spinner wirken. Eher wie nachdenkliche Menschen zwischen Mitte dreißig und siebzig, denen wenig egal ist im Leben. Die meisten selbstständig, manche wohlhabend, einige rhetorisch versiert. Westdeutscher Mittelstand. Auffällig ist, dass alle vor Gesundheit zu strotzen scheinen.
Sie heißen Barbara Bradt, Gerburg und Johannes Lübbertsmeier, Ute und Reiner Betteldorf, Dagmar Siebrecht oder Dorothee und Michael Schneider. Sie sind als Ehepaare gekommen oder allein, sie waren alle mal gesetzlich oder privat krankenversichert, heute sind sie Selbstzahler und tragen Verantwortung für ihre Gesundheit. Die Gründe hierfür sind vielfältig, doch was sie verbindet, ist ein Wunsch, den Johannes Lübbertsmeier, 70, so beschreibt: „Wenn es dann doch mal zum Notfall, zum Gesundheits-GAU kommen sollte, dann soll da ein Netz sein, das einen auffängt.“
Vor drei Jahren begann Johannes Lübbertsmeier aus Wuppertal, dieses Netz gemeinsam mit Freunden zu knüpfen. Von seiner Tochter, die für die Schüler einer Waldorfschule kocht, hatte er gehört, dass es in der Schweiz seit 1987 eine private Solidargemeinschaft namens „Artabana“ gebe, benannt nach Artaban, dem vierten Weisen aus dem Morgenland. Der soll der Legende nach Jesus erst zu seiner Kreuzigung erreicht haben, weil er sich unterwegs von Armen, Aussätzigen und anderen Hilfebedürftigen aufhalten ließ und sein Gold mit ihnen teilte.
Artabana, erfuhren die Lübbertsmeiers auf Nachfragen, gewähre Hilfeleistungen im Krankheitsfall, verstehe sich jedoch nicht als alternative Krankenkasse, sondern als Alternative zur Krankenkasse. Jedes Mitglied genieße freie Arzt- und Therapiewahl und lege seinen monatlichen Beitrag selbst fest. 60 Prozent dieses Beitrags flössen auf ein Gesundheitskonto, über das jeder frei verfügen könne. Damit sollten die laufenden Arzt- und Behandlungskosten beglichen werden. Die restlichen 40 Prozent, mindestens 50 Euro monatlich pro Person, würden auf einem Artabana-Gruppenkonto angespart – für den Fall, dass ein Mitglied in eine krankheitsbedingte Notsituation kommen sollte, die seine eigenen Rücklagen übersteigen würde.
Einen Rechtsanspruch auf Kostenübernahme gebe es nicht, wohl aber eine demokratische Abstimmung darüber in der Gruppe. Sollten die Mittel der eigenen Gruppe nicht ausreichen, könnten Regional- beziehungsweise Bundesfonds aushelfen, an die jede Artabana-Gruppe regelmäßig Teile ihrer Beiträge abführe. Auch in Deutschland gebe es schon erste Artabana-Gruppen.
Die Lübbertsmeiers wurden hellhörig. Sie waren zu diesem Zeitpunkt schon seit mehr als sieben Jahren unversichert. Denn Johannes Lübbertsmeier, Vater von sieben Kindern und Teilhaber eines Wuppertaler Maschinenbauunternehmens, hatte sich 1996, mit 60 Jahren, entschlossen, aus der Firma auszusteigen. Er wollte seinen Traum vom Leben auf dem Lande verwirklichen. Seither fehlte das Geld an allen Ecken und Enden. 1.000 Mark verlangte die Krankenversicherung damals pro Monat von dem Ehepaar, „mehr, als wir jemals verbrauchten“, glaubten Johannes und Gerburg Lübbertsmeier. Sie kündigten. Nur das Restrisiko – Krebs, Diabetes, Schlaganfall – machte ihnen zu schaffen. Artabana bekam eine Filiale in Wuppertal.
„Anfangs waren wir ein ziemlich unkoordinierter Haufen“, erzählt Johannes Lübbertsmeier. Er lächelt dabei, als sehne er sich nach dieser Zeit zurück. Die Gruppe war mit sieben, acht Mitgliedern überschaubar, und weil sich damals alle bester Gesundheit erfreuten und zudem wirklich jeder jeden kannte – Ute und Reiner Betteldorf sind Tochter und Schwiegersohn der Lübbertsmeiers, Barbara Bradt ist eine langjährige Freundin von ihnen –, stand auch nicht wirklich die Frage nach dem gegenseitigen Vertrauen, ohne das eine solche Solidargemeinschaft nicht funktionieren kann. Der Gemeinschaftstopf musste nicht ein einziges Mal angezapft werden.
Heute freilich sind die Zeiten ungemütlicher. Die Zahl der Unversicherten steigt bundesweit ständig an, weil immer mehr Menschen das Geld für die Krankenversicherung entweder fehlt oder sie nicht mehr bereit sind, den Verwaltungsapparat der Kassen über regelmäßige Beitragserhöhungen zu sponsern. Andere, wie beispielsweise die Heilpraktiker Dorothee und Michael Schneider, beide Mitte 30, haben ihrer privaten Versicherung kürzlich den Rücken gekehrt, weil sie die Kosten für die Naturheilverfahren, die die Schneiders in Anspruch nehmen, ohnehin nicht mehr trägt.
Entsprechend hoch ist das Interesse an alternativen Sicherungssystemen. Wer heute bei der Artabana Deutschland Zentrale im bayerischen Chieming anruft und ankündigt, einen Artikel über den Verein schreiben zu wollen, wird erst einmal abgewimmelt. Weniger aus Misstrauen denn aus der Angst heraus, dass Öffentlichkeit zu steigender Nachfrage führen könnte. Einer Nachfrage, die zeitnah kaum zu befriedigen sei.
Denn wie, fragt Johannes Lübbertsmeier, soll man in aller Schnelle herausfinden, ob man der Gruppe so vertrauen kann, dass sie einem eines Tages – wenn es wirklich um Leben und Tod geht – tatsächlich die gewünschte Therapie zubilligt und nicht doch den Geldhahn abdreht? Wie viel Großmut braucht es, um in einer solchen Situation fair abzuwägen und nicht nur an sich selbst zu denken? Wer vermag überhaupt zu entscheiden, was dann noch fair ist? Und schließlich: Wie soll man sich über all das klar werden, wenn die Gruppe seit Monaten kontinuierlich wächst, anstatt sich zu festigen? Wenn man sich nur alle sechs Wochen einen Nachmittag lang sieht?
So um die 20 Mitglieder sind sie mittlerweile hier in Wuppertal. 13 von ihnen haben sich an diesem Abend in der Praxis für Physiotherapie eingefunden. Außerdem: sechs interessierte Anwärter, die einen Anschluss an die Gruppe wünschen, am liebsten sofort. Wie soll man da den Überblick behalten? Oder, anders gefragt: Wann ist die Grenze der Solidarität erreicht?
In Bayern ist neulich eine Frau an Krebs erkrankt. Sämtliche Ersparnisse der dortigen Artabana-Gruppe, über Jahre angehäuft, waren auf einen Schlag dahin. Und natürlich hat es Diskussionen gegeben, unschöne. Dahingehend, was wirklich nötig und gerechtfertigt war an Therapie und ob es nicht eine strengere Kostenabwägung hätte geben müssen. Denn am Ende starb die Frau, und das Geld war trotzdem weg.
Oder das Beispiel, das Reiner Betteldorf, 47, jetzt anführt: Er berichtet der Gruppe von einem Arbeitskollegen, der kürzlich einen Schlaganfall erlitten hat. Unglaubliche Kosten, sagt Reiner Betteldorf, vor allem in der Folge! Der Kollege ist – glücklicherweise, muss man wohl sagen – herkömmlich versichert, da zahlt die Kasse einen beträchtlichen Teil des Lohns im Krankheitsfall fort, immerhin ein Jahr lang.
Was aber, fragt sich Reiner Betteldorf, wenn ihm so etwas zustößt? Wer kommt dann für ihn und seine Familie auf? Die Betteldorfs haben zwei Kinder und ein Haus zu unterhalten. „Wenn man solche Geschichten hört“, sagt er, „dann kommt man schon ins Grübeln, ob man nicht doch eine Zusatzversicherung abschließt, wenigstens fürs Krankenhaus. Oder für die Berufsunfähigkeit.“
Die Artabanisten aus Wuppertal blicken sich an. Die Rückkehr ins System der Versicherten ist schwierig, mit steigendem Alter für viele schlicht unerschwinglich. Einige versuchen, das Schweigen mit bemühten Witzeleien zu beenden. Michael Schneider, der 36-jährige Heilpraktiker, schlägt als vertrauensbildende Maßnahme einen gemeinsamen Wandertag vor. Er wird auf Anfang Mai terminiert. „Wir dürfen uns von solchen Ängsten nicht auffressen lassen“, sagt nun Gerburg Lübbertsmeier, 65. Es klingt wie auswendig gelernt.
Die Wuppertaler Artabana-Gruppe ist noch nicht ernsthaft auf die Probe gestellt worden. Niemand ist bisher so schwer erkrankt oder pflegebedürftig geworden, dass das Geld der Gemeinschaft hätte angetastet werden müssen. Aber es gibt Hinweise, dass die Solidarität auch bei denen, die ihre Selbstlosigkeit wie einen Schild vor sich hertragen, schneller als gedacht an ihre Grenzen stoßen könnte.
Da war zum Beispiel die Frau mit dem Autounfall. Ihr selbst war nichts passiert, aber das Auto, für ihren Job unerlässlich: Totalschaden. Es war eine eindeutige Notsituation, befand die Gruppe und bewilligte ihr 1.500 Euro – als Darlehen. Monate ist das nun schon her. Zurückgezahlt hat sie, entgegen der Absprache, bislang keinen Cent. „Da werden wir überlegen müssen, wie wir damit umgehen“, sagt Johannes Lübbertsmeier, und der Ton, der in seinen Worten mitschwingt, klingt nicht so sehr nach sanftmütigem Weltverbesserer, sondern nach pensioniertem Maschinenbauunternehmer, der weiß, was eine Bilanz ist.
Das unterschwellige Misstrauen hat die Landschaftsökologin Dagmar Siebrecht, 40 Jahre alt und seit wenigen Wochen Mitglied, unlängst zu spüren bekommen. Beim Aufnahmegespräch, erzählt sie, „musste ich mich fast dafür rechtfertigen, dass ich anscheinend immer so blass aussehe“. Ihr Eindruck täuschte nicht. Die Gruppe hatte Angst, sich ohne Not eine kranke Frau ins Haus zu holen. Denn, räumt Gerburg Lübbertsmeier freimütig ein: „Chronisch Kranke können wir uns nicht leisten.“