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Archiv-Artikel

Was ist in Karton 6?

AUS BUDAPEST KENO VERSECK

Die Creme der ungarischen Kulturschaffenden reagierte einmütig wie selten – mehr als hundert bekannte Intellektuelle unterschrieben den kurzen Aufruf: „Er hat der Welt von uns Kunde gebracht. Sein Name steht in der universellen Kulturgeschichte. Wir lieben ihn, wir ehren ihn, wir achten ihn.“ Bei der Premiere seines neuen Films Anfang Februar beklatschte ihn das Publikum frenetisch. Die halbe ungarische Ministerriege war erschienen, der sozialistische Regierungschef Ferenc Gyurcsány umarmte ihn demonstrativ.

Die Gesten galten dem 67-jährigen ungarischen Filmregisseur und Oscar-Preisträger István Szabó. Sie wären deutlich weniger enthusiastisch ausgefallen, wäre nicht kurz zuvor herausgekommen, dass Szabó IM gewesen war. In jungen Jahren, von 1957 bis 1963, hatte er über Kollegen und Freunde Spitzelberichte für die Staatssicherheit geschrieben, manche mit gehässigen Anschuldigungen. Herausgekommen war Szabós IM-Tätigkeit durch zufällige Archivfunde des Budapester Historikers András Gervai. Ende Januar veröffentlichte Gervai in der Wochenzeitschrift Élet és Irodalom (Leben und Literatur) einen ausführlichen Bericht darüber.

Der für seinen Film „Mephisto“ mit dem Oscar Ausgezeichnete gab sofort alles zu. Und rechtfertigte sich mit bizarren Erklärungen: Es sei die mutigste Tat seines Lebens gewesen, sie habe einen Freund vor dem Galgen bewahrt. Kurz darauf korrigierte sich Szabó: Nicht seinen Freund, vielmehr sich selbst habe er vor dem Tod gerettet. Der Inhalt der Berichte sei mit den Betroffenen abgesprochen gewesen, man habe den Geheimdienst ausgetrickst.

Szabó ist nicht der Erste, der in Ungarn in den vergangenen Jahren als IM enttarnt worden ist, aber der mit Abstand Prominenteste. Der Fall des Regisseurs erschüttert das Land schwer. Und spaltet es. Ein kleiner Teil der Öffentlichkeit ist bestürzt und fordert eine konsequentere Aufarbeitung der Vergangenheit. Die große Mehrheit empfindet das als Zumutung. Dabei hat die Aufklärung der Staatssicherheitsvergangenheit noch gar nicht richtig begonnen.

„Es ist die große Schande der ungarischen Demokratie, dass wir uns nach 16 Jahren immer noch mit der Aktenöffnung herumquälen“, sagt der Politologe László Kéri. Der Budapester Historiker Krisztián Ungváry, einer der besten Kenner der ungarischen Stasi-Geschichte, spricht von einem „Desaster“: „Die Elite der Diktatur hat sich nach 1990 reibungslos in das neue System hinübergerettet. In den Nachfolgegeheimdiensten der ungarischen Staatssicherheit gibt es heute, nach deren eigenen Aussagen, 70 Prozent alte Genossen. Und dass die Archive nicht geöffnet werden, daran tragen nicht nur die Altkommunisten Schuld, sondern alle Parteien im Parlament.“

Erst 1994 verabschiedete das Parlament nach langen Debatten ein so genanntes „Agentengesetz“. Das verpflichtet unter anderem Regierungsmitglieder und höhere Beamte der Verwaltung und des öffentlichen Dienstes, sich auf eine Vergangenheit als Mitarbeiter der ungarischen Staatssicherheit überprüfen zu lassen. Bei einem positiven Befund werden die Angaben im ungarischen Amtsblatt veröffentlicht. Ist der Betreffende damit nicht einverstanden, muss er von seiner Funktion zurücktreten.

Noch einmal drei Jahre dauerte es, bis das Parlament beschloss, die Akten auch für die Allgemeinheit zu öffnen: Seit Ende 1997 haben die Ungarn gesetzlich die Möglichkeit, beim Historischen Archiv der Staatssicherheitsdienste, der ungarischen Aktenöffnungsbehörde, Einsicht in ihre früheren Personalakten zu beantragen.

Aufklärung und Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit blieben dennoch weitgehend aus. Die drei postkommunistischen Nachfolgegeheimdienste der einstigen ungarischen Staatssicherheit brauchen nur diejenigen Akten herauszugeben, die nicht die nationale Sicherheit gefährden. Diesen Gummiparagrafen wendeten sie ausgiebig an. György Gyarmati, der Leiter der Aktenöffnungsbehörde, kommentiert es mit einem Hauch von Ironie: „In der ehemaligen DDR haben die Bürger die Stasi-Zentralen gestürmt und die Akten in Besitz genommen. Bei uns war die Aktenöffnung das Ergebnis einer Wende, die wir als Revolution auf dem Verhandlungsweg bezeichnen.“

Ganze 94 Angestellte hat die ungarische Aktenöffnungsbehörde, Wachpersonal und Pförtner eingeschlossen. Rund vier Kilometer Akten werden im „Historischen Archiv“ derzeit verwaltet. Gyarmati schätzt, dass seine Behörde damit über etwa 90 Prozent der ehemaligen ungarischen Stasi-Akten verfügt. Der entscheidende Aktenteil jedoch befindet sich in der Hand der heutigen ungarischen Geheimdienste: der so genannte „Karton Nummer 6“. Mit dieser Datei können die Decknamen von Spitzeln real existierenden Personen zugeordnet werden. Die Papiervariante der Klarnamendatei gilt als zum großen Teil vernichtet, in der ungarischen Aktenbehörde lagern nur noch Fragmente davon. Die heutigen ungarischen Geheimdienste besitzen jedoch ein auf Magnetband gespeichertes Exemplar. Und halten es unter Verschluss. Als Gyarmati nachfragte, wann es in seine Behörde überführt werde, wiegelte das Amt für Nationale Sicherheit, einer der Nachfolgegeheimdienste, ab. „Ich bekam die Antwort“, so Gyarmati, „die elektronischen Daten seien teilweise beschädigt, außerdem sei der zugängliche Teil in großem Maße mit aktuellen Daten vermischt, die die nationale Sicherheit betreffen würden.“

Dass die Klarnamendatei nicht öffentlich zugänglich ist, hat Folgen: Betroffene wie auch Forscher können oft nur über die Namen von Spitzeln spekulieren oder sie durch aufwendige Puzzlearbeit herausfinden. Aber nicht nur das: Offiziell gilt niemand als ehemaliger Mitarbeiter der Staatssicherheit, solange es keine Angaben darüber im Karton Nummer 6 gibt. Selbst dann nicht, wenn die Aktenlage ansonsten eindeutig ist.

Das belegt der neueste prominente Spitzel-Fall aus Ungarn: Vor zehn Tagen veröffentlichte der Historiker Krisztian Ungváry Recherchen zur IM-Tätigkeit des langjährigen Oberhauptes der ungarischen katholischen Kirche, Kardinal-Erzbischof László Paskai. Er soll in den 70er-Jahren Staatssicherheitsspitzel gewesen sein, allerdings nur harmlose Berichte geschrieben haben. Ungváry hatte das Material, wie auch sein Kollege Gervai im Fall des Regisseurs István Szabó, im „Historischen Archiv“ zufällig gefunden. Paskai reagierte bisher nicht auf den Vorwurf. Weil Angaben aus der Klarnamendatei fehlen, gilt Paskai offiziell auch nicht als ehemaliger IM.

Spitzel, die keine waren. Besonders in den vergangenen zwei Jahren häuften sich die Fälle, in denen prominente Ungarn als einstige IM enttarnt oder einer früheren IM-Tätigkeit beschuldigt wurden. Darunter: Ungarns Exregierungschef Péter Medgyessy, der Nationalbankpräsident Zsigmond Járai, die Intendantin des öffentlichen-rechtlichen Rundfunks, Katalin Kondor, sowie mehrere Parlamentsabgeordnete und Botschafter Ungarns. Anders als im Fall Paskai kam das jedoch nicht durch Recherchen von Forschern heraus. Vielmehr wurde ungarischen Medien Aktenmaterial von unbekannter Seite zugespielt. Ungváry vermutet politische Intrigen dahinter. „Die Politiker haben Zugang zur Klarnamendatei und benutzen das Material nach jeder Wahl für ihre eigenen Zwecke“, sagt der Historiker. „Bestimmte Informationen werden aus den Magnetbändern herausgesucht und manchmal politisch verwertet.“

Im Frühjahr vergangenen Jahres machten die in den Medien kursierenden Listen mit den Namen prominenter mutmaßlicher Ex-Spitzel so viel Furore, dass sich die ungarische Politik zur Flucht nach vorn entschloss. Die regierenden Sozialisten schlugen den oppositionellen Nationalkonservativen vor, den gesamten Aktenbestand freizugeben. Die Debatten zogen sich über Monate hin. Im Oktober erklärte das Verfassungsgericht den Gesetzentwurf als unvereinbar mit dem ungarischen Grundgesetz. Die Persönlichkeitsrechte Einzelner würden nicht ausreichend geschützt, hieß es in der Begründung.

Heute geben sich die beiden großen Parlamentsparteien gegenseitig die Schuld am Scheitern des Entwurfs. „Wir wollen die Aktenöffnung“, sagt Ildikó Lendvai, die Fraktionschefin der regierenden Sozialisten. „Für die Rechten, die Antikommunisten, ist es eben immer viel peinlicher, wenn herauskommt, dass unter ihnen auch Spitzel waren.“ Die oppositionellen Nationalkonservativen des Bundes Junger Demokraten kontern. „Als antikommunistische Partei sind wir es, die am meisten an einer Vergangenheitsaufarbeitung interessiert sind“, sagt der Abgeordnete Zsolt Német, einer der führenden Außenpolitiker der Jungdemokraten. „Aber es kann nicht alles veröffentlicht werden. Schließlich muss man auch die nationale Sicherheit im Blick haben.“

Vergangene Woche machte die kleine liberale Partei Bund Freier Demokraten, die mit den Sozialisten in einer Koalition regiert, im Parlament noch einmal einen Vorstoß zur Aktenöffnung. Ein Eckpfeiler des Entwurfs: Die Nachfolgeheimdienste sollen früheres Archivmaterial nur noch in sehr wenigen Ausnahmefällen zurückhalten dürfen.

Es ist unwahrscheinlich, dass der Entwurf im Plenum des Parlaments debattiert wird. Anfang April stehen Wahlen an, die Parteien sind mit ihren Kampagnen beschäftigt. Sozialisten wie Konservative versprechen, sich des Themas nach den Wahlen anzunehmen. Echtes Interesse scheint es jedoch auf keiner der beiden Seiten zu geben. Vor der Mehrheit der Wähler riskieren sie damit wohl kaum etwas. Abzulesen ist es auch an der Zahl derer, die Einsicht in ihre Personalakte beantragt haben: In acht Jahren waren das gerade einmal 14.000 Ungarn.

Gábor Fodor ist derjenige liberale Abgeordnete, der den Entwurf ausgearbeitet hat, einer der wenigen ungarischen Politiker, der sich seit Jahren ernsthaft um eine vollständige Aktenöffnung bemüht. „Bei der Vergangenheitsbewältigung stehen wir wirklich schlecht da“, sagt Fodor. „Das betrifft übrigens nicht nur das Thema Staatssicherheit, sondern auch die ungarische Beteiligung am Holocaust. Wir könnten auf diesem Gebiet viel von Deutschland lernen. Eine Nation, die sich nicht mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert, betrügt sich selbst und lebt in Lüge. Und das ist nicht gut.“