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Archiv-Artikel

Wild und am Ball

Der Freizeitfußball im Norden boomt: Die Teams heißen Internationale Härte, Roter Stern Bremen oder Silbersack St. Pauli und spielen in selbst organisierten Ligen, weil ihnen der zwanglos-bunte Kick lieber ist, als das bürgerliche Vereinsleben

von Jörg Heynlein

Montag, 20 Uhr, „Training“ von Asche 07 auf dem Aschenplatz des SV von 1907 Linden in Hannover. „Heute heißt es wieder Klamotten einweichen nach dem Spiel, das rote Zeug kriegst du sonst nicht mehr raus“, lautet der Waschtipp von Tom. Drei Tage Tauwetter und Regen haben den Ascheplatz aufgeweicht, kleine Seen und Pfützen zeigen gnadenlos die Unebenheiten auf. Ein kalter Ostwind treibt den Akteuren die Wangenröte ins Gesicht. Das Flutlicht (Luxus!) verbreitet die Atmosphäre einer Autobahnraststätte. Von rechts spendet die orange Leuchtschrift eines Baumarktes ein wenig Wärme; von links ragen die kaum erkennbaren Kuppeln der Lindener Sternwarte in den verregneten Himmel. Die AkteurInnen haben feinste Funktionsbekleidung mit lässigen Accessoires zu einer leicht „trashigen“ Sportbekleidung kombiniert.

Über Jahre hinweg hat sich neben Berlin und Köln, den Metropolen des Freizeitfußballs, auch in Hannover, Bremen und Hamburg eine überlebensfähige Fußball-Parallelgesellschaft entwickelt. Wobei es zu unterscheiden gilt zwischen den Freizeit-Kickern der bunten, wilden oder Hobby-Ligen und jenen, die sich ohne feste Mannschaft von Zeit zu Zeit unverbindlich zum Spielen treffen. „Wir haben eine echte Hobby-Liga, zudem einige verstreute Mannschaften, die wie Nomaden herumziehen und an Turnieren teilnehmen, erklärt der Hannoveraner Stephan, der trotz der Kälte in kurzen Hosen spielt. In der Hannoveraner Hobby-Liga besteht eine Mannschaft aus sechs Feldspielern und einem Torwart. Gespielt wird zweimal fünfundzwanzig Minuten auf einem kleinen Feld. „Asche 07“ führt derzeit in der Tabelle vor „Zement Briegel“ und „Spoko schwarze Pumpe“.

Die wilden Kicker glauben, dass der Freizeit-Fußball im WM-Jahr einen Boom erfahren wird. Von der Veranstaltung WM allerdings sind sie enttäuscht: „Die WM 2006 lässt uns ’wahren’ Fans doch draußen. Wer lässt sich schon mit Optionen für Eintrittskarten abspeisen, die mit großer Geste gönnerisch in die ausgehungerte Meute geworfen werden“, lautet die einhellige Meinung unter den eingemummelten Freizeitfußballern. Die meisten haben sich nicht um ein Ticket beworben. Für die meisten ist das Fifa-Turnier in diesem Jahr nicht ihnen, sondern einem konsumorientierten Publikum gewidmet.

Aus ähnlichen Gründen entstanden bereits in den 1970er Jahren als sportliche Randerscheinung des politischen Wandels der 1968er in großen Städten die ersten wilden Ligen – in Abgrenzung zu bürgerlicher Vereinsmeierei und den Reglementierungen der langarmigen Fußballkrake DFB. Wildheit und Freiheit sind die Motive der Fußballseparatisten: Es war das Bestreben, der zunehmend von Organisation, grauen Anzügen und Geld regierten offiziellen Fußballbranche den gespielten Ernst zu nehmen. „Holt Euch die Freude und das Spiel zurück“, war ein Ruf, der auch heute wieder Aktualität hat.

Wie definiert sich der wilde Fußball? „Unser Liga nennt sich Hobby-Liga, doch es gibt da mehrere Möglichkeiten. Das Fachorgan „Bolzen“ als Zentralorgan der Freizeitfußballer ist sich da auch nicht einig. Wilde Liga klingt aber am besten“, finden Stefan und Jochen. „Schau einfach zu, dann weißt du warum wild der treffende Begriff ist,“ rät mir Tom mit einem Lachen. „Wir sind näher dran am Straßenfußball, wir spielen nur nicht barfüßig“.

Es geht spartanisch zu bei den meisten Teams: Oft gibt es kein Flutlicht und keinen Platzwart; keine abgekreideten Plätze, oft keine Tornetze. Duschen nur in solchen Fällen, wenn die wilden Kicker auf Vereinssportplätzen spielen und einen kleinen fairen Beitrag im Monat für Dusche und Infrastruktur zahlen. Denn auch die Vereine stehen vor leeren Kassen.

Wilde Fußballer haben ihr Talent, ihre Technik und eine Lust zum Spiel, die sie im Verein nicht ausleben können. „Beim Bolzen ist der Druck, gewinnen zu müssen, nicht da, der Spaß und die Freude am Spiel mit Leuten, die freiwillig und aus gleichem Antrieb dazukommen, überwiegt“, ist für Stefan der Hauptgrund für die Existenz des zwanglosen Kicks. „Ich brauche kein Vereinsleben, ich hab ja Freunde“, schiebt Jochen nach. Weitere Gründe, wild zu sein: Keine Lust auf Wochenendspiele, keine Lust auf Verpflichtungen. Lockere Verbindungen, Kommen und Gehen ohne Gruppenzwang. Das Leben sei schon geregelt und fremdbestimmt genug.

Viele Vereine kennen diese Argumente und bieten ein Gebührenmodell, dass den Freizeit-Fußballern „freien, aber vereinsnahen Raum“ lässt, ohne die volle Mitgliedschaft erwerben zu müssen. Jeder Euro ist für sie wichtig.

Woran erkennt man sie, die wilden Kicker? “Schau uns doch an“, schlägt Jochen vor und lupft seine Wollmütze. „Keiner von uns verbringt 60 Prozent seiner Freizeit beim Friseur und kauft sich verwegene Rasuren und Färbungen wie die Popstars der Kreisklassen.“ Niemand wartet mit fettglänzendem Gelhaar und androgynem Haarreif a la van Buyten oder Pizarro auf. Goldene oder weiße Fußballschühchen werden als humoristische Einlage gewertet. Dort, wo vereinslos gebolzt wird, stehen keine fremd finanzierten, frisch polierten und tiefer gelegten Sportauspuff-Wagen am Spielfeldrand. Alle sind mit dem Fahrrad gekommen.

Hier schwitzt der Molekularbiologe neben dem Fernfahrer, der Tischler neben dem Soziologen: Wilder Fußball ist integrativ, keine geschlossene Gesellschaft. „Wer mitspielen will, kommt einfach dazu“, beschreibt Tom abschließend die nicht vorhandenen Zutrittsbestimmungen.

„Aber jetzt lass uns mal anfangen, uns wird kalt.“, sagen die Jungs. „Hell“ gegen „Dunkel“, heißt das Trainingsspiel. Viele sind nicht gekommen an diesem ungemütlichen Montag: „Der Winter stellt uns auf eine harte Durchhalte-Probe“, sagt Jochen. Die Hartgesottenen aber haben gegen Schneestürme und Regengüsse eine erstaunliche Technik entwickelt, lange Unterhosen, abstruse Mützen und Funktionsjacken derart zu kombinieren, dass trotz mehrerer Bekleidungsschichten übereinander ein Grundmaß an Beweglichkeit herrscht und ein flottes Spiel läuft. Mal sehen, wie lange die Achillessehnen halten.