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Archiv-Artikel

BARBARA DRIBBUSCH über GERÜCHTE Gebetsfahnen auf der Heerstraße

Warum verreisen, um neue Milieus kennen zu lernen? Ein Spiel bei Hertha genügt

Kürzlich erst hatte ich mit Freundin Britt darüber gestritten, was man noch so an neuen Erfahrungen im Leben machen könnte. Mantra-Singen im Himalaja! „Albern“, sagte Britt „stell dir mal umgekehrt vor, eine indische Mittelschichtsfamilie würde auf bayerischen katholischen Pilgerwegen wandern und ‚Es kommt ein Schiff, geladen‘ summen. Würden wir uns doch beölen.“ Statt in die Ferne zu flüchten, behauptete Britt, müssten wir „neuen Erfahrungen hier suchen, vor unsrer Haustür“.

Mir kam Britts Spruch wieder in den Sinn, als ich mich vergangene Woche abends auf den Weg gemacht hatte. Bei Eisregen und klirrender Kälte. Zu Fuß. Die Kinder an der Hand. Auf den Weg zu Hertha.

Noch nie in meinem Leben war ich in einem Stadion bei einem Fußballspiel dabei gewesen. Diese Völker, die mit bunten Schals und merkwürdigen Hüten an manchen Wochenenden über den Ku’damm ziehen und dabei Gebetsfahnen schwenken, hatte ich mit Verachtung bedacht. Doch jetzt bin ich mittendrin, die Kinder wollten unbedingt mal dabei sein. „Schneller, Mama, beeil dich“, treibt mich mein Sohn David an. Wir lassen uns mitziehen von der Menge, ich bin expeditionsmäßig eingepackt, in gefütterte Hose, Fleecehemd, Anorak und Sturmhaube.

Viele in der Masse tragen selbst gestrickte blau-weiße Schals. Eigentlich toll, wie gelassen die Leute hier dem westlichen Schönheitswahn begegnen. Blau-Weiß! Das muss Bayern sein! Schließlich spielt Hertha gegen Bayern München. „Blau-Weiß ist Hertha, Mama“, klärt mich David mit gesenkter Stimme auf, während wir uns dem Pulk am Eingang des Stadions nähern.

Dabei wollte ich nicht so ahnungslos sein, am Morgen hatte ich den ersten Fußballartikel meines Lebens in der Tagespresse gelesen. „Marcelinho“, gebe ich mein frisch erworbenes Wissen zum Besten, „ist ja der große Star bei Hertha, hat aber in letzter Zeit nachgelassen.“ Offenbar spreche ich den Namen wenigstens richtig aus, wie „Marsellinjo“, und dass der Star eine komplizierte Irokesenfrisur trägt, habe ich mir auch gemerkt.

Wenig später sitzen wir im Block O5, ich hatte das O auf der Eintrittskarte ursprünglich für eine Null gehalten, was zur Verwirrung bei der Suche nach den Sitzplätzen führte.

Gerade wird das Spiel angepfiffen, 72.000 Leute sind trotz Eisregens gekommen. In der Nordkurve strecken die Menschen ihre Arme in die Höhe und schwenken sie hin und her. Diese Energie des Publikums! In einem Flirt-Ratgeber habe ich früher mal gelesen, dass Frauen, die Männer kennen lernen wollen, am besten ins Fußballstadion gehen sollten. Garantiert männerarm und deswegen sinnlos als Ort der Anbahnung seien hingegen Yogakurse oder Ayurveda-Wochenenden. Wie wahr.

Ich suche durch mein mitgebrachtes Opernglas die Mannschaften ab. Der im Tor links scheint Oliver Kahn zu sein, sieht jedenfalls so aus wie im Fernsehen. „Zu wem hältst du eigentlich?“, fragt David laut. „Hertha. Ich stehe immer auf Seite der Schwachen“, brülle ich durch den tobenden Fanlärm zurück. Mein Sitznachbar guckt mich böse an. Dabei hatte ich am Morgen nur gelesen, dass Hertha nicht der Favorit ist bei diesem Spiel. Aber die Hertha-Leute spielen jetzt ganz gut nach vorne.

Ein Mann läuft durch die Zuschauerreihen, er trägt eine Art Rucksack auf dem Rücken, in dem sich offenbar ein Behälter mit Bier befindet. Ein Schlauch ragt aus dem Rucksack heraus, der Mann zapft halbe Liter ab, die er dann in großen Plastikbechern verkauft. Diese Trinkschläuche gibt es auch an Rucksäcken für Mountainbikefahrer, um den Flüssigkeitsverlust während anstrengender Touren nonstop ausgleichen zu können. Fußball scheint ein Outdoorsport zu sein.

„Ha-ho-he-Her-tha-Be-Es-Ce!“, tönt es von überall. Rhythmisch gebrüllte Silben regen jedenfalls den Energiefluss der Chakren an. Vorne versemmelt Hertha gerade eine Torchance. Nein! Buh! Das wär’s doch gewesen!

Zwei Stunden später, nach dem 0:0, ziehen wir wieder mit der Menge in Richtung Heerstraße, die Fähnchen flattern, Sonderzüge warten, die Gläubigen vom Wallfahrtsort nach Hause zu transportieren. Am nächsten Tag bringt mir der Postbote einen neuen Bildband, den ich einige Tage zuvor im Versand bestellt hatte: „Pilgerreise zum Kailash“. Das mit dem Himalaja ist nämlich noch nicht vom Tisch. Aber ich habe Flugangst. Und ganz offenbar gibt es auch einfachere Lösungen.

Fragen zum Fußball? kolumne@taz.de Morgen: Philipp Maußhardt über KLATSCH