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Archiv-Artikel

Lob des Staates

SCHLAGLOCH VON MATHIAS GREFFRATH Wohlstand durch Teilen – viele streiten bereits dafür. Jetzt braucht es Gesetze

Mathias Greffrath 

■ lebt als Schriftsteller und freier Publizist in Berlin. Von 1991 bis 1994 war er Chefredakteur der Wochenpost. Zuletzt schrieb er an dieser Stelle über nötige Korrekturen in der Werteordnung der Mittelschichten: „Wir sind Roland Koch“.

Das Selbstverständliche gerät in den Blick, wenn es verschwindet, das geht auch Theoretikern so. Im Oktober l842 schrieb Karl Marx über das neue Delikt Holzdiebstahl. Die Armen machten gegen die zu Kaufleuten gewandelten adeligen Waldeigentümer ihr Gewohnheitsrecht auf Bruchholz geltend, das sie als Gemeingut betrachteten, das niemand oder dem lieben Gott gehöre. Sie unterlagen, der Kapitalismus hielt Einzug ins Rheinland – und alles kam ungefähr wie Marx es prophezeite. Nur ganz anders. 150 Jahre danach sinkt – hierzulande – die Profitrate, und den Wirtschaftsprofessoren wird das Selbstverständliche, das Wachstum, zum Problem.

Allerdings wird auch wieder über Gemeingüter nachgedacht, aber diesmal ausgehend vom Elend im Wohlstand. Erwerbslose gründen Gemeinschaftsgärten; Ökologen kämpfen für die Erhaltung der natürlichen Umwelt als dem gemeinsamen Erbe der Menschheit; die Mittelschichten verteidigen die sozialen Gemeingüter, weil sie die Kosten für Vorsorge, Ausbildung, Erziehung nicht mehr individuell tragen können. Und Sozialwissenschaftler denken darüber nach, ob, all das verbindend, die Parole „Gemeingüter“ ein Kampfbegriff sein kann. So auch neulich in der Böll-Stiftung, wo die Denkschrift „Gemeingüter – Wohlstand durch Teilen“ vorgestellt wurde. Sie fordert eine „Rückbesinnung“ auf die Gemeingüter und einen neuen Wohlstandsbegriff.

Angesichts von CO2- und „Finanz“-Krise, der Privatisierung von Genen, Informationen und kommunalem Wohnraum gewinnt diese Debatte an Fahrt – über Broschüren hinaus. Aber genau deshalb überkam mich der Zweifel, ob diese Denkschrift noch auf der Höhe der Zeit ist – und ob sie in die richtige Richtung geht. Müssen wir noch mit ungriffigen Formeln wie „Commons based Peer Production“ (genossenschaftliche Produktion) den Gedanken verbreiten, dass es nicht normal ist, die Erde und das Wissen privatprofitabel zu vernutzen? Ist aus dieser Erkenntnis nicht längst Praxis geworden? Für die Bürger in Leipzig, die ihr Wasserwerk zurückerobert, die Internauten, die Server für Open Access programmiert haben – allemal. Und dann: Gibt es da nicht noch andere Wege als die „Rückbesinnung“ auf kleingenossenschaftliche Formen der Solidarität?

Der Taxifahrer jedenfalls, den ich, irgendwann zwischen Klimabericht, Finanz-GAU und Hartz-IV-Statistik, angstschlotternd zu achtsamerem Fahren aufforderte, hielt sich in cholerischem Verfassungpatriotismus an die üblichen Verdächtigen. In ungebremster Wut raste er einhändig durch Berlin-Mitte, fuchtelte mit dem freien Arm nachhaltig zum Parlament hin, und brüllte schwitzend: „Artikel 14, da steht es doch alles drin: Eigentum verpflichtet zum Dienst am Allgemeinwohl – und die da sind verpflichtet, das durchzusetzen.“

Die Idee von Gemeingütern nebst der Wut über ihr Schwinden muss, wenn die Gespräche im Taxi und auch im Lottoladen irgendwie repräsentativ sind, im „Volk“ jedenfalls nicht mehr propagiert werden. Die schlummert dort, wahrscheinlich seit Jahrhunderten. Aber die Berufung auf den Staat und den Artikel 14,2 GG ist angesichts der Dringlichkeit vielleicht besser geeignet, „die unterschiedlichsten sozialen Bewegungen zu einer gemeinsamen Strategie zu bündeln“, als eine Denkschriftsemantik, die eine Gesellschaft fordert, in der das „Geld eine nachgeordnete Rolle spielt“.

Anschlussfähiger an die „Tagesschau“-Welt als diese herrschaftsfreie „Wiederentdeckung der Gemeingüter“ – eine Art Sozialismus auf Katzenpfoten in den Nischen des Niedergangs –scheint es mir immer noch, die „Pflicht des Staats“ einzufordern, „eine gerechte Sozialordnung“ und die „öffentliche Daseinsvorsorge“ sicherzustellen. Denn deren „weitgehende Privatisierung“ durch „die ungezügelten Interessen an Gewinnmaximierung läuft dieser staatlichen Verantwortung zuwider“. So schrieb es – zwei Jahre vor der Grünen-Denkschrift – der Verfassungsrichter Siegfried Broß.

Und wirkungsvoller, als den „mündigen Bürger“, der sich um die Gemeingüter „kümmert“, gegen den Staat zu setzen, scheint es mir, die Errungenschaft Sozialstaat, die „so unwahrscheinlich und kostbar wie Kant, Beethoven oder Mozart“ ist (Pierre Bourdieu), auf der Liste der Gemeingüter an die oberste Stelle zu setzen. Und nicht gegen den Staat, sondern mit seiner Verfassung im Rücken – und unter dem Arm – für ihn und die anderen Erbschaften zu kämpfen.

„Gemeingüter entfalten sich in sozialen Netzen.“ Stimmt, aber gesichert werden sie nur durch Recht, jedenfalls in komplexen Gesellschaften: Hunderte von Solardächern wuchsen aus der Mitte der Gesellschaft, aber erst das Gesetz über Erneuerbare Energien brachte ihren Durchbruch. Ganz zu schweigen davon, dass nicht irgendeine „Corporate Social Responsibility“ Manager und Aktionäre wirksam auf das Gemeinwohl verpflichten wird, sondern nur ein anderes AG-Gesetz. Eines, das nicht länger gegen das Grundgesetz verstößt (so sagt es, völlig verfassungskonform, der Denkschriftautor Wolfgang Sachs).

Wer, wenn nicht der Staat, sollte Gemeingüter wie Wasser schützen? Oder eine sozial gerechte Ordnung herstellen?

Nichts also gegen interkulturelle Gemeinschaftsgärten, Fairtrade-Genossenschaften, die Verdienste der GLS-Bank oder des CCC. Aber diese Pioniertaten – und da steckt mein Optimismus – geschehen sowieso. Aus Vernunft, aus Moral, aus Lust, aus Not. Und in vielen Kommunen arbeiten Bürger und Bürgervertreter Hand in Hand an Runden Tischen und für neue Formen des Umgangs miteinander und mit der Welt des Konsums. Für die nächste Runde aber brauchen wir Gesetze – a tempo. Oder, um’s militärisch zu sagen: Die Brückenköpfe in die Gemeingütergesellschaft sind gelegt, jetzt müssen die Pioniere die Brücken bauen, über die alle nachkommen können.

Auch der Übergang in die fossile Moderne wurde vorbereitet auf Inseln des Neuen, miteinander verbunden hat sie der Staat – damals eine neue Institution. Dieser – inzwischen halbwegs demokratische – Staat ist ein ererbtes Gemeingut. Wir müssen ihn nicht neu erfinden. Nur zu unserem machen. Und das spricht dafür, die Bewegung für die Gemeingüter als Kampagne für die Inkraftsetzung des Artikels 14, 2 zu führen. Wir sind der Staat.

MATHIAS GREFFRATH