: Die gutwilligen Brüder und Schwestern
Von der Deformation der Solidarität: Der Jesuit und Sozialexperte Friedhelm Hengsbach über die Opfer der Reformen
Bremen taz ■ Vor der Tür des Kito stehen zwei Männer von der „Solidarischen Hilfe“ und verteilen gelbe Flugblätter. „Neue Kürzungsrunde bei Arbeitslosengeld II“ steht darauf und: „Junge Menschen durch Hartz IV systematisch diskriminiert.“ Die Menschen, die hierher gekommen sind, um den Sozialexperten Friedhelm Hengsbach zu hören, sind nicht mehr jung, und ihre festen Wollmäntel und die soliden Schuhe sind für Menschen, die von Arbeitslosengeld leben, möglicherweise ein bisschen teuer. Aber sie nehmen willig die Flugblätter.
Es sind Gutwillige, und so scheint es passend, dass der Jesuit Friedhelm Hengsbach, der das Oswald-von-Nell-Breuning-Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik in Frankfurt leitet, die Zuhörer mit „Liebe Schwestern und Brüder“ begrüßt. Der Moderator hat ihn vorgestellt als jemanden, der sich der „Verlierer der Deformation“ annehme, und während er das ein bisschen holprig von seinem Zettel abliest, stehen zwei der wenigen Jungen auf und gehen.
Friedhelm Hengsbachs Haar ist schlohweiß, aber seine Stimme klingt wie die eines jungen Mannes. Er hat Folien für den Projektor vorbereitet, auf die er mit ordentlicher Schrift in blauer und grüner Farbe Stichworte geschrieben hat wie: „Solidarität als Steuerungsform“, „Erosion“ und „Deformation der Solidarität“. Was Hengsbach sagt, wird seinen Zuhörern vertraut vorkommen: Dass Hartz IV ungerecht ist und „unseriös“.
Dass die gesellschaftlich verursachten Risiken wie Arbeitslosigkeit oder Altersarmut nicht auf den Einzelnen abgewälzt werden dürfen. Dass die Politik seit Helmut Kohl mit der Propaganda gegen die angeblich „faulen Säcke“ eben dies versuche. Und dass die große Koalition auf diesem Weg weitergehe, obwohl der Reichtum in unserer Gesellschaft doch wachse. „Es heißt, die sozialen Sicherungssysteme sind nicht finanzierbar“, sagt Hengsbach. „Aber tatsächlich geht es um ein Verteilungsproblem.“
Hengsbach sagt nichts Neues. Aber er sagt es mit jener Überzeugung, die seinen Zuhörern fehlt, wenn sie später fragen: „Ist der Zug schon abgefahren?“ Und: „Wie können wir wieder mehr Vertrauen wecken?“
Doch gegen zehn Uhr werden auch die Gutwilligen ungeduldig, und so gehen sie in Kleingruppen, als die Diskussion zu den schwierigeren und interessanteren Fragen gelangt: Wie die Zeit für die Verlierer dieser Standortverlagerungüberbrückt werden könne, bis zu der die neuen EU-Länder, in denen heute billiger produziert wird als in Deutschland, nach deutschen Produkten nachfragen? Und wie jene höhere Wertschöpfung erreicht werden könne, die die gesellschaftliche Solidarität sozusagen ein bisschen schmieren könnte? Da war ein Drittel der Gutwilligen schon in die festen Wollmäntel geschlüpft und gegangen. grä