Ausgestellte Flüchtigkeit

KUNST Joëlle Tuerlinckx’ Retrospektive im Münchner Haus der Kunst zeigt, wie inspirierend es sein kann, wenn sich eine Künstlerin mit Raum und Zeit beschäftigt

VON JULIA GWENDOLYN SCHNEIDER

Eher ungewöhnlich für eine Retrospektive, durchzieht Joëlle Tuerlinckx’ Schau eine positive Unfertigkeit, gepaart mit einer ungemein reichen Imagination. Dies ist kein Zufall. Die Kunst der 1958 in Brüssel geboren Künstlerin zeichnet sich durch eine ästhetische Sprache der Mehrfachkodierung aus. Für sie ist das Prinzip der Beweglichkeit essenziell, und das drückt sich in ihrem Werk aus. Schon der Titel „World(k) in Progress?“ ist mehr als doppeldeutig und fragt kritisch nach dem Fortschritt sowohl in der Welt als auch im künstlerischen Werk. Die Betonung wird an den drei Stationen – Brüssel, München und Bristol – je anders gesetzt, auf Work, World und Word.

Wer im Münchner Haus der Kunst das Treppenhaus zur Südgalerie betritt, befindet sich schon in der ersten Arbeit: „Espace barré“ (ausgestrichener Raum) steht mit Bleistift auf die weiße Wand geschrieben. Diese unkonventionelle Form der Betitelung, die nur nennt, was die Künstlerin für wichtig hält, und auf die Angabe ihrer Galerien gänzlich verzichtet, zieht sich durch die Ausstellung. Ein Detail, das auf wichtige Aspekte verweist: zunächst die Auseinandersetzung mit dem Museum als Institution, dann auf die gesamträumliche Ausstellungskonzeption, in die sich die Titel einfügen sollen, und schließlich auf die Negation des Kunstwerks als Verkaufsobjekt.

Im „Espace barré“ sind die Wände mit Bleistift schraffiert. Die 2004 im Badischen Kunstverein erstmals gezeigte Wandarbeit wirft sofort die Frage auf: Beginnt hier die Ausstellung oder ist schon alles vorbei, wo doch der Zugang gesperrt ist (barré)? Im Haus der Kunst bekommt die wieder aufgenommene räumliche Arbeit unweigerlich einen Bezug zur Vergangenheit des einstigen nationalsozialistischen Kunsttempels. Weist das Ausstreichen auf das zurück, wofür die Architektur ehemals stand, oder spielt es auf eine Verdrängung dessen an?

Tuerlinckx’ Werke nehmen gern bewegliche Standpunkte ein. Subtil zeigt sich das in einer Schnur, die mit losem Knoten versehen als Schlinge auf einem Tisch ausgelegt ist. Hier wird ein gedankliches Angebot gemacht, der Knoten an der Schlinge könnte sich weiter schließen, oder wieder öffnen. Das Seil hält das in der Schwebe. Eine visuelle Form für einen Moment der Unentschlossenheit zu finden, war für Tuerlinckx eine Entdeckung. Seither sucht sie weiter danach. Ihre offenen Kunstwerke versteht sie als kleine Revolte gegen den vom Chemiker und Nobelpreisträger Ilya Prigogine etablierten Zeitpfeil und seinen Ausdruck der Irreversibilität.

Ein Fisch aus der Kindheit

Zeit und Raum sind die thematischen Konstanten, die bereits in den ersten Arbeiten zu finden sind. So zeigt die Künstlerin einen roten Fisch, den sie im Alter von fünf Jahren fertigte. Weil er dringend ein räumliches Umfeld brauchte, zeichnete sie ihm einen Behälter. Ihre erste Fotoarbeit „4 Carrés – soleil“ (Vier Sonnenquadrate, 1976) zeigt in fünf Abfolgen die Ausdehnung von vier Papierblättern, die sich zu einem immer größer werdenden Quadrat verschieben. Es scheint, als sei viel Zeit vergangen, aber warum hat sich dann der Schatten im rechten Bildrand kaum verändert? Die Frage nach der Erfahrung von Zeit und Raum und der Versuch, ephemere Phänomene sichtbar zu machen, erscheint bereits hier.

Eine fast unsichtbare, sehr fragile Bodenarbeit führt zu einer großartigen Inszenierung von Raum und Wahrnehmung. Tuerlinckx hat mit Konfetti den Umriss eines großflächigen Vierecks auslegen lassen. Um dafür zu sorgen, dass der angedeutete Raum in der monumentalen Halle nicht untergeht, wird das Rechteck von zwei strengen Wärtern bewacht. So wie die Künstlerin es liebt, das Randständige in den Mittelpunkt zu stellen, weist sie an anderen Stellen auf die Konstruktion von Standards und Normierungen in der Welt hin. Eine DIN-Serie hält die deutschen Papiermaßstäbe hoch, während ein Film in Amateurästhetik mithilfe abfotografierter Fachliteratur die parallele Suche nach dem perfekten Pixel in den USA, Europa und Russland illustriert. Ein Wettstreit, den Tuerlinckx eng mit der Politik des Kalten Kriegs verbunden sieht.

In den beiden hinteren Ausstellungshallen nimmt die Dichte der Werke dramatisch zu, dabei entsteht nicht nur der Eindruck einer gesamträumlichen Installation oder eines exzessiven Archivs, hier kommt auch Tuerlinckx’ interessanter Umgang mit ihren ephemeren Kunstobjekten zur Geltung. Bei vielen ist der Status vage: Sie könnten Teil einer neuen Arbeit werden, ein Werk sein oder sich im Archiv befinden. Eine Sammlung von Scheiben, die sie aus Stellwänden vergangener Ausstellungen ausgesägt hat, wurde mit einem Stück Wand aus dem Wiels in Brüssel bereits auf den neuesten Stand gebracht. Ein dazugehöriges Werkverzeichnis zeigt die Umrisse der Kreise, mit Ort und Datum versehen, plus rotem Punkt bei Verkauf, aber in Tuerlinckx’ offenem Museum wird auch dieses Klassifikationssystem hierarchielos als ein Werk angesehen.

■  Bis 29. September. Haus der Kunst, München