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Archiv-Artikel

Aktionistisch orientiert

KUNST Der Umgang mit dem öffentlichen Raum ist Thema der „Agoraphobia“-Ausstellung in der Galerie Tanas. Eine Schau, die sich mit den aktuellen Entwicklungen im Istanbuler Gezi-Park gleich noch zugespitzter guckt

Wenn es keine Präsenz von Menschen auf öffentlichen Plätzen mehr gibt, bewegt sich überhaupt nichts

VON INGO AREND

Eine Frau in Arbeitshose, die eine Horde Männer auf allen vieren, wie Schafe, über einen öffentlichen Platz führt. Selbst für europäische Verhältnisse wäre das Bild gewagt gewesen. Aber in Ägypten löste es wahre Tumulte aus. Als die Künstlerin Amal Kenawy 2009 ihre Performance „Silence of sheep“ durchführte, kam es zu Protesten und Handgemengen. Auch für die Staatsmacht war die Kunstaktion zu viel, die so unverblümt auf Codes wie Religion oder Nation anspielte. Und die so demonstrativ die Geschlechterrollen umkehrte. Kenawy wurde verhaftet. „Schande über dich“, schrien die aufgebrachten Zuschauer der Aktion. Und: „Was ist mit deinem ägyptischen Stolz?“

Der öffentliche Raum als Dreh- und Angelpunkt sozialen Wandels. Man könnte die ambitionierte Ausstellung in der privaten Tanas-Galerie für (nicht nur) türkische Gegenwartskunst, in der das Video der 2012 gestorbenen Künstlerin Kenawy derzeit zu sehen ist, als einen Versuch sehen, die These von den Facebook- und Twitter-Revolutionen zu widerlegen. Wenn es keine physische Präsenz von Menschen auf öffentlichen Plätzen mehr gibt, so argumentiert Kuratorin Fulya Erdemci mit Blick auf eine berühmte Definition Hannah Arendts, bewegt sich überhaupt nichts.

Und wie sehr sie und ihre Mitkuratorin Bire Öger, Direktorin der Istanbuler Stiftung für Kunst und Kultur, mit „Agoraphobia“, ihrem – übrigens schon vor Jahresfrist gewählten – Titel, ins Schwarze der aktuellen Entwicklungen getroffen haben, zeigte sich fast zeitgleich zur Eröffnung der Schau. Denn genau diese „Angst vor dem öffentlichen Raum“ (so die Bedeutung von Agoraphobia) demonstrierte die türkische Regierung 2.300 Kilometer weiter südöstlich von Berlin in Istanbul. Gerade die Härte, mit der sie die Proteste am und um den kleinen Gezi-Park im Herzen der türkischen Metropole niederschlagen ließ, beweist diese Furcht.

Klein und konzentriert

Amal Kenawys Videoarbeit ist eine von elf Positionen der kleinen, aber konzentrierten Schau. Mal wird um den öffentlichen Raum getrauert – wie in den Fotografien der amerikanischen Künstlerin LaToya Ruby Frazier. Mal wird er wertgeschätzt – wie in den fotografischen Dokumentationen der hierzulande selten gezeigten New Yorker Künstlerin Mierle Laderman Ukeles. Die eine dokumentierte in einer Serie Schwarz-Weiß-Aufnahmen den Abriss des kommunalen Krankenhauses in ihrer Heimatstadt Braddock im US-Bundesstaat Pennsylvanien. Die andere, Erfinderin der „Maintenance-Art“, drückte im selben Medium ihre Liebe zu aller Art von „Gemeingut“ schon mal dadurch aus, dass sie symbolische Waschungen von Straßen oder Treppen durchführte. Oder 5.000 Arbeitern der New Yorker Gesundheitsdienste in einer aufsehenerregenden Aktion per Handschlag persönlich für ihre Arbeit dankte.

Dass bei diesem Thema aktionistisch orientierte Kunst eine herausragende Rolle spielt, ist kaum verwunderlich. Erstaunlich ist es trotzdem, wie viele Arbeiten dem brisanten Thema so etwas wie einen Begriff von Schönheit abgewinnen können. Denn das Video „Confronto“ der brasilianischen Künstlerin Cinthia Marcelles, in dem ein Polit-Kollektiv mit einer Feuerperformance auf einer viel befahrenen Kreuzung in Belo Horizonte den Verkehr zum Erliegen und die Polizei zum Eingreifen bringt, wirkt weniger wie ein Fanal zur Tat denn als pyromanische Sinfonie.

Und der argentinische Künstler Lux Lindner hat die „psycho-politischen Untergrundenergien“ von 200 Jahren Bürgerkrieg in dem Land in Miniatur-Piktogramme übersetzt – ein faszinierender Versuch, bedrückenden Verhältnissen eine neue Sprache abzugewinnen.

Als intimer Prolog zur 13. Internationalen Istanbul-Biennale, die Mitte September am Bosporus eröffnet, ist „Agoraphobia“ gedacht. Und die abstrakte Fragestellung der Ausstellung bei Tanas wirkt nun plötzlich wie die Blaupause für den Kampf, der vor wenigen Wochen dort in Istanbul begann. Schwer vorstellbar, dass die Biennale für ihre Schau und ihr prophetisch „Public-Alchemy“ genanntes Begleitprogramm wirklich den Gezi-Park wird nutzen dürfen, wie sie es eigentlich vorhatte. Aber mit unsicheren Verhältnissen kennen sich die Künstler in der Türkei aus.

Seit dem Militärputsch 1980 sind sie in der prekären Zwischenrolle geübt, für die der Istanbuler Künstler Sener Özmen das passende Bild gefunden hat. Auf einer fünfteiligen Fotoarbeit sieht man ihn selbst mit nacktem Oberkörper, grimmig verzerrtem Gesicht und einem Megafon auf dem Rücken – ein Zwitter zwischen dem politischen Aktivisten, der er sein muss, und dem Lautsprecher seiner selbst, der er gern sein will. Immerhin: Angst vor der Öffentlichkeit hat er nicht.

■ „Agoraphobia“. Tanas-Galerie, Heidestraße 50. bis 27. Juli. Täglich 11–18 Uhr. Booklet mit Texten von René Block und Fulya Erdemci