Roulettespiel ums Weltgefüge

MODERNE MENSCHLICHE KOMÖDIEN Das 10. Festival Internationale Neue Dramatik an der Schaubühne präsentiert Stücke und Theatermacher aus Latein- und Nordamerika. Wieder dabei ist der Argentinier Rafael Spregelburd

Offen bleibt die Frage, ob der Weltenlauf Teil eines Plans oder dummer Zufall ist

VON SIMONE KAEMPF

Wenn die Frage, wie wir künftig leben sollen, tatsächlich mit einer mathematischen Gleichung zu beantworten wäre, dann läge das Glück in Rafael Spregelburds Stück „Die Dummheit“ zum Greifen nahe. Aber das Tonband, auf das der Wissenschaftler Finnegan die Formel gesprochen hat, wird von einem Mafioso mit einer Popkassette verwechselt und verschwindet im Walkman der stumm-behinderten Ivy. Dazu reiht sich ein Paar, das eine Tasche mit den Millionen aus einem Kunstdeal in einem Hotelzimmer liegen lässt. Oder fünf Glückspieler, die sich auf dem Weg nach Las Vegas über ein Autoersatzteil zerstreiten.

Was für ein Roulettespiel ums Weltgefüge, das der argentinische Dramatiker Spregelburd immer wieder anzettelt! Menschliche Irrtümer werden weitergeschleppt wie Rechenfehler. Randfiguren sorgen auf Nebenschauplätzen für neue Verwirrungen, und das über einen Zyklus von sieben Stücken, benannt wie moderne Todsünden: Dummheit, Sturheit, Bescheidenheit, Überspanntheit, Panik, Paranoia. Und so ausgetüftelt, so wild entschlossen und überzeugend ausgebreitet, dass Rafael Spregelburd an den deutschen Theatern mittlerweile sehr präsent ist.

Beim Festival Internationale Neue Dramatik (FIND) an der Schaubühne, die ihn früh entdeckt hat, werden bis zum Wochenende zwei Arbeiten Spregelburds gezeigt. Hier fiel er vor sechs Jahren erstmals auf, als bei einer szenischen Lesung von „Die Dummheit“ offenkundig wurde, dass dieser Autor an einer umfassenden modernen menschlichen Komödie schreibt. An einer, die nicht an agitierender Wiedergabe der Verhältnisse interessiert ist, sondern eine transformierte Realität erschafft, die gleichsam intelligent mit dem Korpus Theater umgeht.

Spregelburd, 1970 in Buenos Aires geboren, gründete bereits während des Studiums in den 90er-Jahren seine erste Theatertruppe, die schnell erfolgreich wurde. Er ist ein genauer Denker und smarter Gesprächspartner. Beim FIND wird er anwesend sein und am Sonntag im Streitraum über das Festivalthema „Die drei Amerikas“ mitdiskutieren. Und im Grunde muss man auch über seine Arbeit im Zusammenhang mit der argentinischen Krise reden. Von der ist in seinen Stücken nie die Rede. Aber der ökonomische und politische Notstand im Jahr 2001 veränderte und radikalisierte seine Arbeit wie die der ganzen jungen Theaterszene: Der Glaube schwand, dass Theater die Kraft zur politischen Anklage habe, formal-ästhetische Experimente wurden wichtiger und erregten auch in Europa Aufmerksamkeit.

„Manchmal gibt es Situationen, in denen jede politische Stellungnahme schon eine Kollaboration bedeutet“, beschreibt es Spregelburd heute, „alles, was man tut, spielt denen, die die Macht haben, in die Hände. Es ist dann wichtiger, etwas Neues zu denken, was nicht vom System gedacht werden kann.“ Zu dem Aufbegehren, sich politisch von keiner Seite vereinnahmen zu lassen, kamen die schwierigen privaten Situationen. „Immer mehr Freunde und Bekannte verließen das Land. Ständig war man am Flughafen, um jemanden zu verabschieden. Es war wie ein innerer Krieg.“

Mit der Krise schwand der Glaube, das Theater habe die Kraft zur politischen Anklage

Diese Stimmung unterwanderte Spregelburd mit einer groß angelegten, zehnteiligen Theaterserie. „Bizarra, una saga argentina“ entstand im Stile einer Telenovela über zehn Wochen und mit insgesamt 50 Schauspielern. Die üblichen Regeln des Genres, nicht über Politik zu reden und keinen Sex zu zeigen, sind darin aufgebrochen. Schon das war an dieser Saga skandalträchtig.

Spregelburds Stück „Paranoia“, das in seiner eigenen Inszenierung als Gastspiel bei FIND läuft, spielt subtiler mit dem Genre. Grob umrissen dreht sich die Handlung um Außerirdische, die sich von Drehbüchern und fiktiven Geschichten ernähren, die auf der Erde produziert werden. Der Vorrat neigt sich zu Ende. Eine Gruppe Wissenschaftler, Schriftsteller, Soldaten soll für Nachschub sorgen, doch was sie mit gemeinsamer Kraft erfinden, gleicht ausgerechnet einer südamerikanischen Telenovela. Doch „Paranoia“ ist viel subtiler und realitätsnäher, als es die Nacherzählung vermuten lässt. Es geht um Kritik an der Elite, aber auch um die Kraft des Geschichtenerzählens selbst. Paranoia meint auch die Paranoia des Künstlers, welche Geschichten er erfinden will. Von ihr nimmt Spregelburd sich nicht aus. „Wenn man das macht, was von einem erwartet wird, funktioniert es nicht. Aber genau das Gegenteil auch nicht.“

Auf solche blinden Flecke, auf Punkte, die eine Gesellschaft noch nicht benannt, kategorisiert und verinnerlicht hat, zielen seine Texte. Der Aberwitz realer Verhältnisse bildet den Unterboden. Und immer bleibt die Frage offen, ob der Weltenlauf der Teil eines Plans, die unglückliche Verkettung von Fehlentscheidungen oder einfach nur dummer Zufall ist.

■ Termine unter www.schaubühne.de