: Schiffbruch? Nicht an der eigenen Küste!
Ein kulturwissenschaftliches Forschungsteam beschäftigt sich mit dem Ort, an dem das Wasser das Land berührt. Die Hamburger Kunsthistorikerin Susan Müller-Wusterwitz erklärt im Interview, wie in holländischen Darstellungen der Küste diese zur Projektionsflächen für nationale Inhalte wurde
Wie kann man Küste inszenieren? Die ist doch einfach vorhanden, oder?
Susan Müller-Wusterwitz: Ja, in gewisser Weise schon, aber die Vorstellungen von dem, was Küste ausmacht, sind sehr verschieden. Wenn Sie ein Bild von der Küste malen würden, wäre das ganz anders als meins.
Wie würde Ihres aussehen?
Ich sehe Kap Horn vor mir.
Kap Horn?
Das liegt daran, dass mein Vater Kapitän war und in seiner Jugend einer der letzten, die noch mit den Salpeterseglern um Kap Horn gefahren sind. Davon hat er uns Kindern oft erzählt. Mein Bild von Seefahrt und Küste ist davon geprägt, es ist eher felsig und dramatisch.
Gibt es so etwas wie ein gesamtgesellschaftliches Bild? Ist die Küste in der Vorstellung der Deutschen eher bedrohlich oder lieblich?
Ein gesamtgesellschaftliches Bild kann es nicht geben: Die Küste ist eine Landschaft, die mit vielen Erwartungen verbunden ist. Es kommt immer auf die Perspektive an. Nach den aktuellen Berichten über erste Fälle von Vogelgrippe auf Rügen empfinden vermutlich viele die Küste als etwas Bedrohtes, vielleicht sogar als etwas Bedrohliches, ebenso nach Sturmfluten oder Tankerunglücken. Wassersportler haben einen anderen Blick auf die Küste als Naturschützer. Und Touristen haben eine andere Vorstellung von der Küste als die Menschen, die dort leben.
Welche?
Für die Touristen ist sie in erster Linie ein Ort der Erholung und mit entsprechenden positiven Vorstellungen verbunden. Wenn Sie aber Küstenanwohner fragen, ob Sie oft ans Wasser gehen, werden sie vermutlich antworten: „Nee, was soll ich da, ich habe zu tun.“ Ein Ort der Sehnsucht ist die Küste wohl vor allem für diejenigen, die nicht vom Meer leben und deren Familien nicht über Generationen von Sturmfluten bedroht waren.
Welchen Ort meinen wir eigentlich mit „Küste“?
Manche Bayern sagen, die Küste fängt nördlich des Mains an. Aus geologischer Sicht dagegen beginnt sie erst hinter dem Dünengürtel am Meer. Alles, was durch das Wasser erreicht wird, ist die Küste. In unserem Projekt fassen wir den Begriff weiter. Wir befassen uns mit Küstengesellschaften, Menschen, die hinter dem Deich im Marschenland wohnen, und der Landschaft, die durch ihre Arbeit geprägt ist.
In Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich mit der Inszenierung von Küste in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. Was geschieht dort mit der Küste?
Sie wurde zur Projektionsfläche für nationale Inhalte. Nach der Abspaltung von Spanien und langjährigen zähen Kämpfen wurden die sieben nördlichen niederländischen Provinzen zu einer Nation, die sich eine eigene Identität erst schaffen musste. Bilder der holländischen Küste, die ein Idealbild der Gesellschaft entwarfen, trugen dazu bei.
Und wie wurde sie auf diesen Bildern dargestellt?
Um 1600 entstanden die ersten Strandbilder, die den holländischen Strand meist bei Sonnenschein zeigen. Die Küste scheint der Ort gewesen zu sein, an dem sich alle Teile der Gesellschaft treffen und zwar gleichberechtigt auf einer Ebene, dem Strand. Die Fischer stehen neben den Bürgern, Einfache und Vornehme zusammen. So wollte die Republik gesehen werden: friedlich, frei und im Inneren geeint.
Gab es keine aufgewühlte See und berstende Schiffe?
Schon, aber diese Motive werden nicht an der eigenen Küste dargestellt. Offenbar passten Schiffskatastrophen nicht in das ideale Bild, das die Nation von sich zeichnete. Schiffbruch wurde in der Fremde dargestellt, mit Felsen im Vordergrund, einem eindeutig „unholländischen Material“.
Und warum nahmen die Holländer die Küste? Sie hätten sich auch das platte Land suchen können.
Das haben sie auch. Die ersten Gegenden, die niederländische Künstler dargestellt haben, waren Dörfer und bewirtschaftete Felder. Die Küste kam erst später hinzu. Immerhin kam ein bedeutender Teil des Wohlstandes der niederländischen Provinzen von der Küste, durch Fischerei und Seehandel. Schon deshalb war die Küste ein interessanter Gegenstand für Maler.
Und wie genau sieht die Landschaft aus?
Das hängt davon ab, was der Maler ausdrücken wollte. Es gibt Bilder, in denen wird die Küste geschildert, als hätte sie Krallen, mit denen sich das Land nach außen verteidigt. Das ist zum Beispiel in Bildern der Fall, welche auf einer symbolischen Ebene den Krieg gegen Spanien thematisieren. In Darstellungen, die ein friedliches Bild vom Land vermitteln wollen, sind die Dünen dagegen sanft geschwungen.
Gibt es auch den Blick vom Meer auf das Land?
Die frühesten wirklichkeitsnahen Darstellungen der Küste vom Wasser aus gesehen stammen aus Handbüchern für die Navigation, die um 1560 entstanden. Seefahrer haben Landmarken wie Kirchtürme, Windmühlen und auffällige Landschaftsformationen aufgezeichnet, um sich auf See an diesen Küstenprofilen orientieren zu können. Die Form der Darstellung scheinen wenig später Maler übernommen zu haben, die einen schmalen Küstenstreifen mit Stadtsilhouette oberhalb der Wasserlinie darstellen, um das eigene Land in Szene zu setzen.
Interview: Eiken Bruhn