: berlinale szene Ach, früher
Den Rausch verloren
Die Berlinale und ich sind unterschiedliche Personen, die plötzlich nicht mehr miteinander schlafen. Sicher lag’s auch daran, dass ich nicht jeden Abend ins Kino ging und manchmal, wenn ich mich erledigt fühlte, einfach zu Hause blieb, auch um darüber nachzudenken, weshalb ich den Filmfestspielen in diesem Jahr zwar freundlich, aber doch auch irgendwie distanziert gegenüberstehe.
Früher hatte ich mich in die Rolle des enthusiastischen Filmeguckers reingesteigert, dem die gute Projektion wichtiger war, als die aktive Teilnahme am eigenen Leben, das sich kettenrauchend zwischen Kaffee, Zeitung und Kino dennoch aufregend anfühlte. Der Rausch des Filmeguckens hatte mich aus der üblichen Spätwinterdepression herausgerissen. Sicher nahm mich diesmal die Berlinale nicht so gefangen, weil ich in zu vielen Pressevorführungen gewesen war. „Pressevorführungen sind ja nicht the real thing“, dachte ich, als ich eher zufällig am Abend in dem stillen, melancholischen Film „4:30“ von Royston Tan aus Singapur saß. Getragen von der nicht an Verwertung interessierten Aufmerksamkeit ganz „normaler“ Cineasten, konnte der Film seine ganze Schönheit entfalten. Plötzlich fühlte sich die Berlinale wieder schön an. Früher hätte ich versucht, das mit weiteren Filmen zu verstärken; diesmal trank ich ein Bier, schaute rauchend eine Stunde in die Luft und fuhr nach Hause. DETLEF KUHLBRODT